Nachdenkliches aus der Linkspartei

Unter dem Titel „Wir sind in man­cher Frage zu weit gegan­gen“ schreibt der lin­ke Berliner Kultursenator Klaus Lederer:

'… Es läuft, grob gesagt, so: Virologen lie­fern Einschätzungen zu Virus und Pandemieverlauf, Politik muss abwä­gen und ent­schei­den, unter gro­ßem zeit­li­chen Druck, mit vie­len Unbekannten, auf unge­si­cher­ter Datenbasis…

Und wäh­rend der Idealzustand von Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, ins­be­son­de­re bei basis­ori­en­tier­ten Parteien, vor­aus­setzt, dass Probleme öffent­lich gründ­lich ana­ly­siert und bespro­chen, Lösungen kon­tro­vers dis­ku­tiert, Grundsatzfragen durch Parlament und Volksgesetzgebung ent­schie­den wer­den, beglei­tet von Presse und Öffentlichkeit, sind auch die­se der­zeit beeinträchtigt…

Wir alle spü­ren wohl die zurück­lie­gen­den Wochen. Hieß es anfangs oft noch sport­lich „Pass auf dich auf!“, ist es jetzt auch mal ein „Pass auf, dass du nicht durch­drehst“. Die Krise ver­än­dert eben nicht nur den Politikmodus, son­dern auch die, die sie machen. Wir haben nicht die sta­bi­len Korrektive, Meinungen von Multiplikatoren, Abwägung sichern­den demo­kra­ti­schen Prozesse im Rücken.

Sicher war in den zurück­lie­gen­den Wochen nur, und ist es bis heu­te: Wir haben es mit einem Virus zu tun, das auch ohne Symptome ansteckt und durch Kontakt leicht über­trag­bar, für vie­le Menschen harm­los, für eini­ge aber töd­lich ist, vor allem, wenn die Intensivtherapiekapazitäten nicht aus­rei­chen. Dann ent­ste­hen schwer­ste medi­zi­ni­sche und ethi­sche Belastungen für das behan­deln­de Personal…

In die­ser Situation waren kurz­fri­stig dra­sti­sche Maßnahmen mit tie­fer Wirkung auf das sozia­le und öffent­li­che Leben nötig…

Kritik und Reflexion waren und blei­ben da wich­tig. Unsere ersten Corona-Beschränkungsverordnung vom 22. März ent­stand unter extre­mem Zeitdruck. Da sind wir in man­cher Frage zu weit gegan­gen. Manches haben wir schnell kor­ri­giert, wie die Ausweispflicht und die unkla­re Lage beim Sitzen auf der Parkbank…

Die Fähigkeit, sich zu kor­ri­gie­ren, ist gera­de in Krisenzeiten essen­zi­ell, wenn die viel­zi­tier­te Stunde der Exekutive schlägt. Basta-Politik und gro­ße Inszenierungen hel­fen nie­man­dem, kon­ter­ka­rie­ren eher die Wirkung der eige­nen Aktivitäten.

Unter Druck steigt die Fehleranfälligkeit. Sich die Offenheit zu bewah­ren, auf Kritik nicht pau­schal und abwie­gelnd zu reagie­ren, ist nicht ganz ein­fach in der struk­tu­rel­len Tretmühle des Regierens und Verwaltens „unter Corona“, und den­noch notwendig.

Ob Regeln ein­ge­hal­ten wer­den, hängt davon ab, ob sie Akzeptanz fin­den und alle errei­chen. Akzeptanz fin­den sie, wenn sie schlüs­sig sind und befolgt wer­den kön­nen. Das ist eine inhalt­li­che Frage. Ob sie alle errei­chen, ist eine Frage der Kommunikation…

Die Sorge vor auto­ri­tä­ren Verhältnissen mag auf den ersten Blick über­zo­gen wir­ken. Aber es ist schon so, dass län­ger dau­ern­de Einschränkungen von Grundrechten auch in demo­kra­ti­schen Gesellschaften mas­si­ve Gefahren nach sich ziehen.

Selbstverständlich ist es eigent­lich ein Unding, in wel­chem Umgang wir alle über mehr als ein paar Tage auf die Wahrnehmung von Rechten ver­zich­ten (müs­sen), die das Bundesverfassungsgericht als für eine „demo­kra­ti­sche Gesellschaft schlecht­hin kon­sti­tu­ie­rend“ bezeich­net hat, und damit alles ande­re als eine Petitesse…

Aber was wird nach die­sen Wochen aus ein­sa­men Menschen, aus Alleinerziehenden in klei­nen Wohnungen, die nach ein paar Wochen Homeoffice und Homeschooling nicht mehr ein noch aus wis­sen? Mit Kindern, denen nach einem Monat Stubenarrest die Decke auf den Kopf fällt?

Was ist mit den sozia­len Ängsten von Freischaffenden und Selbständigen, pri­va­ten Kulturbetrieben oder ehren­amt­li­chen Sport- und Kiezvereinen, denen das Wasser mit jeder Woche mehr an den Hals rückt?…

Ich sor­ge mich, dass die Signale der Lockerungsdebatte falsch waren…

Diese Sicherheitssuggestion ist nach Wochen der Isolation als Sehnsucht mensch­lich ver­ständ­lich. Aber sie ist nicht nur gefähr­lich, weil sie erneut gewal­ti­ge sozia­le und öko­no­mi­sche Konsequenzen nach sich zie­hen kann. Sie ist auch höchst trü­ge­risch, denn eine sol­che Normalität wird es auf abseh­ba­re Zeit nicht geben.' Link

Auf "Kritik nicht pau­schal und abwie­gelnd zu reagie­ren" - das sind klu­ge Worte in Zeiten, in denen gar zu oft jeg­li­che Kritik mit dem Totschlagargument der "Verschwörungstheorie" beant­wor­tet wird. Das ernst genom­men kann viel­leicht zu einer Diskussionskultur füh­ren, in der nicht nur – wie Lederer meint – Virologen (einer bestimm­ten Denkrichtung, es gibt ja auch ande­re) allei­ni­ge Stichwortgeber für die Politik sind. Dann kämen wir in die Lage, die von ihm benann­ten gesell­schaft­li­chen Konfliktfelder in einen brei­te­ren Blick zu nehmen.

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