So überschreibt der ARD-Filmregisseur und Drehbuchautor Dietrich Brüggemann einen Beitrag auf seinem Blog. Hier einige Auszüge:
»Lieber Freund,
es gibt dich nicht, und damit bist du vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der sich zur Zeit nicht die Haare rauft oder den Kopf gegen die Wand haut. Alle tun das. Nur die Gründe sind unterschiedlich…
Die jetzige Lage ist dilemmatös. Wir sitzen also wieder zwecks Virusbekämpfung zuhause. Wir wollen da aber immer noch Licht anschalten. Und duschen und heizen und was essen und im Internet einkaufen und Fernsehen gucken. Und die Müllabfuhr soll auch kommen. Und die Krankenhäuser müssen weiter funktionieren, dafür muß die Krankenschwester ihr Kind in die Kita bringen können, dafür muß die Erzieherin an den Arbeitsplatz kommen, dafür muß die U‑Bahn fahren, und den Rettungswagen muß auch jemand betanken und reparieren, und der muß wiederum zur Arbeit kommen und das benötigte Material muß da sein und so weiter. Und unsere Internetbestellungen wollen wir ja auch ausgeliefert haben.
Vielleicht fällt uns an dieser Stelle auf, dass all die Leute, die jetzt weiter zur Arbeit gehen müssen, eins gemeinsam haben: Sie haben größtenteils nicht studiert. Eine Schicht von Intellektuellen und (teilweise immer noch) Besserverdienenden setzt sich also in ihre Wohnungen und läßt sich von den weniger Privilegierten bedienen. Letztere tragen die ganze Infektionsgefahr. Das ist noch kein Argument für oder gegen irgendwas, aber man sollte sich es in aller Deutlichkeit vor Augen halten. Ein gewisses Element von religionstypischer Doppelmoral steckt da schon drin, würde ich sagen.
Zweitens fällt auf, dass da eine ganze Menge an Kontakten und Aktivitäten zusammenkommt. Das Virus wird nach einem Lockdown also kaum aus der Welt sein. Es ist immer noch da, und dann kann alles wieder von vorn losgehen. Das ist eigentlich banal, aber ich höre merkwürdig viele Stimmen, die das offenbar anders sehen.
Zu meiner eigenen Position in dieser Debatte: Ich finde vieles, was gerade hierzulande geschieht, nicht gut. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Kritik an politischem Handeln selbstverständlich war. Neuerdings ist man aber, wenn man Kritik äußert, anscheinend ein Menschenfeind. Oder psychisch krank. Oder gar „rechts“. Ich bin ein wenig verwundert, mit was für Begriffen hier hantiert wird. Nur kurz zu den zwei häufigsten Vorwürfen, nämlich Verharmlosung und Verschwörungstheorie: Verharmlosung ist das Gegenstück zur Panikmache. Eine Giftschlange streicheln ist nicht gut. Vor einer Fliege schreiend davonrennen auch nicht. Evolutionär ist letzteres aber erfolgreicher. Wer nur einmal eine reale Gefahr verharmloste, konnte schon gefressen werden. Wer hundertmal unnötig Panik machte, kam davon. Wir dürfen also vermuten, daß wir als Spezies eher zur unnötigen Panik tendieren, weil das in unseren Genen liegt. Wenn nun jeder Versuch einer sinnvollen Einordnung als „Verharmlosung“ beschimpft wird, dann könnte das genau an diesem evolutionären Panik-Bias liegen, und dann wäre es im Gegenzug durchaus berechtigt, dieses Verhalten wiederum als Panikmache anzuprangern, und dann sollte man sich vielleicht in der Mitte treffen. Was Verschwörungen anbetrifft, kann ich nur von mir selber reden – aber wenn ich hier eine Verschwörung dunkler Mächte vermuten würde, dann würde ich mir nicht einbilden, ich könnte was dagegen ausrichten. Nö, dann würde ich mich ins Zimmer setzen, eine Flasche Wein aufmachen und den Dingen ihren Lauf lassen. Netflix and chill. Da ich aber an Weltverschwörungen nicht glaube, wohl aber an Vernunft, Evidenz, Demokratie und Debatte, tue ich das nicht, sondern mache den Mund auf. Das bringt wahrscheinlich auch nichts, aber vielleicht ein bißchen was. Ich kenne übrigens viele andere, die das ähnlich sehen wie ich, aber ihren Mund nicht aufmachen…
Die Politik ist daran gescheitert, eine Strategie auszuarbeiten, bei der die Risikogruppen, allen voran Senioren- und Pflegeheime, ausreichend geschützt werden, und die von einer breiten Bevölkerungsmehrheit über viele Monate getragen werden kann. Stattdessen haben wir jetzt volle Intensivstationen und Lockdown. Die Politik ist übrigens auch an der naheliegenden Aufgabe gescheitert, die Folgekosten und Schäden dieser Lockdowns seriös zu evaluieren. Zumindest ist mir nichts derartiges bekannt. Und sie ist auch an der sehr einfachen Aufgabe gescheitert, die von Epidemiologen in Interviews immer als zentral wichtig bezeichnet wird: Herausfinden, wie weit die Krankheit sich überhaupt schon in der Bevölkerung verbreitet hat. Wie groß also die Dunkelziffer ist. Schon im Frühjahr wurden derartige Studien angekündigt, seitdem habe ich nichts mehr davon gehört. Dafür haben wir eine App, die schlecht funktioniert, und Appelle, die folgenlos bleiben, weil Appelle sowieso immer folgenlos bleiben. Und zahlreiche Anekdoten von Leuten, die schon im vergangenen Winter Geschmacks- und Geruchsverlust und unklare Lungenentzündungen hatten, und am Ende das Gefühl, daß Corona schon viel weiter verbreitet ist als gedacht.
Die Gesellschaft selber ist auch gescheitert, aber nicht bei der Pandemiebekämpfung, sondern an der Aufgabe, ebendiese Aufgabe zivilisiert und ohne Panik anzugehen. Stattdessen: Moralisches Posing auf Social Media, Ausgrenzungs- und Abwertungsreflexe und eine aufgeheizte Medienberichterstattung, die sich auf eine Linie festlegt und jede abweichende Aussage durch „Faktenchecks“ wegbügeln will, welche oft keiner näheren Betrachtung standhalten…
Fazit: Ich halte Corona ganz und gar nicht für harmlos. Daß es gefährlich ist, kann ja jeder sehen. Es ist für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe sogar so gefährlich, daß man dieser Gruppe zwingend besonderen Schutz anbieten muß, und wenn man den versäumt, dann kriegt man volle Krankenhäuser. Ich finde aber die scheinbare Rationalität, aus der heraus man nach immer mehr Lockdowns ruft, ebenso gefährlich. Jeder gedankliche Schritt mag für sich folgerichtig sein, aber das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, und am Ende entsteht aus lauter Einzelschritten ein monströses Ganzes. Ich finde den Tunnelblick höchst problematisch, mit dem die gigantischen Schäden von Lockdowns ausgeblendet werden. Durch die unguten Strukturen des Diskurses spalten wir unsere Gesellschaft auf Jahre hinaus…
Und vor allem: Die unausgesprochene Maxime, die hinter allen Maßnahmen steht, lautet „das Virus muß weg“. Es darf nicht existieren. Fakt ist aber: Es ist schon überall. Wir kriegen es nicht mehr weg. Unser Werkzeug paßt also nicht zum Problem. Wir hauen mit dem Hammer auf eine Schraube, anstatt den Hammer wegzulegen und einen Schraubenzieher zu holen. Aus langjähriger Fahrrad- und Autoschrauberei ahne ich: Das könnte schiefgehen…«