In Winsen an der Luhe sollen sich Ende April 68 von rund 1.800 Beschäftigten mit Corona infiziert haben. Die ver.di-Sekretärin Sandra Schmidt wird mit dem Satz zitiert: »Ich verstehe nicht, warum man bei so vielen Infektionen den Laden nicht erst mal dichtmacht.«
Nur, was ist dran an diesen Meldungen? Es gibt als einzige Quelle dafür (ausgerechnet) das Manager-Magazin. Andere Medien kochen damit ihr jeweiliges Süppchen. Die Berliner Zeitung verwurstet es zu einer Schlagzeile 'Arbeiten bei Amazon: „Es sind Zustände wie in der DDR“'. Die junge Welt titelt heute:
"Schutzlos ausgeliefert
Coronavirus: 70 Infizierte in Amazon-Versandzentrum im niedersächsischen Winsen – Betriebsrat offenbar gegen Schließung
Frankreichs Behörden und Gerichte nehmen Amazon in der Coronakrise an die Kandare, verlangen Schutzkonzepte für die Belegschaften. Hierzulande genießt der Versandhandelsprimus, der zu den großen Profiteuren der Pandemie gehört, dagegen offenbar Narrenfreiheit.
Im Versandzentrum von Amazon im niedersächsischen Winsen an der Luhe, unweit von Hamburg, sind nach Medienberichten bereits etwa 70 Infektionsfälle unter den rund 1.800 Mitarbeitern registriert worden – doch weder der Konzern noch der zuständige Landkreis Harburg denken an Schließung…
Nachdem sich Mitarbeiter beim Landkreis beschwert hatten, überprüfte das Gesundheitsamt die Zustände vor Ort und erlegte Amazon Maßnahmen zum Infektionsschutz auf. ..
Andres Wulfes, Sprecher des Landkreises Harburg, bestätigte am vergangenen Mittwoch gegenüber jW, dass es zu Infektionen in der Amazon-Belegschaft gekommen ist, wollte die Zahl von 70 aber nicht bestätigen. Man habe »ein Auge auf die großen Betriebe«, das Gesundheitsamt habe aber eine Schließung offenbar nicht für notwendig erachtet. Genau die wird immer lauter von Mitarbeitern und Gewerkschaftern gefordert…"
Hier paßt gar nichts zusammen. "Narrenfreiheit" für den Konzern? "Nach Medienberichten" (das Manager-Magazin) soll es Infektionen geben? Der Betriebsrat ist "offenbar" gegen eine Schließung. "Immer lauter" fordern Gewerkschafter aber diese?
Es gibt keine Befragung des Betriebsrats, keine von ver.di, keine der lauten Gewerkschafter. Statt dessen die Propagierung des "bewährten" Konzepts Lockdown. Ist das eine Hilfe für die zahlreichen Flüchtlinge und sonstigen Prekären, die dringend darauf angewiesen sind, ihr Leben irgendwie zu finanzieren?
Auch andere linke Quellen übernehmen ungeprüft den Bericht: labournet.de, das sich auf amazon-watchblog.de bezieht, das wiederum das Manager-Magazin als Quelle nennt. Für die trotzkistische "World Socialist Web Site" ist dabei klar: "Verdi-Funktionäre stimmen allen Schweinereien zu".
Was ver.di tatsächlich sagt, ist:
'Amazon: In Corona-Zeiten krank zur Arbeit? ver.di fordert mehr Rücksicht auf Gesundheit der Beschäftigten und tarifvertragliche Regelungen
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) fordert den weltgrößten Online-Händler Amazon auf, mehr Rücksicht auf die Gesundheit der über 20.000 Beschäftigten in Deutschland zu nehmen. „Die in einer PR-Aktion angekündigte Erhöhung der Stundenlöhne um zwei Euro wird nicht überall und nur als Anwesenheitsprämie bezahlt. Das führt dazu, dass sich Beschäftigte in dieser Corona-Krisenzeit krank zur Arbeit schleppen und damit eine Gesundheitsgefährdung für ihre Kolleginnen und Kollegen darstellen“, erklärte Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel. Anstatt mit Anwesenheitsprämien erkrankte Beschäftigte zum Arbeiten anzuhalten, müsse das Unternehmen allgemein die Gehälter erhöhen, so dass auch arbeitsunfähige Kolleginnen und Kollegen höhere Einkommen haben.
Ein Unding sei, dass es bei Amazon selbst unter den jetzigen Bedingungen krankheitsbedingte Kündigungen gebe. „Dieses Vorgehen zeigt den Zynismus eines Unternehmens, bei dem es vornehmlich um Profite, nicht aber um die Gesundheit der Beschäftigten und ihrer Familien geht“, so Akman.
„Die Vorgehensweise des Konzerns zeigt, wie notwendig tarifvertragliche Regelungen über die Einkommen und den Gesundheitsschutz bei Amazon sind“, sagte Akman. Der Konzern weigert sich seit Jahren, mit der Gewerkschaft über einen Tarifvertrag rechtsverbindliche Arbeitsverhältnisse zu vereinbaren."'
Ebenfalls bei ver.di nachzulesen sind die Erfahrungen eines Beschäftigten:
'„Was bei uns in Sachen Coronaschutz getan wird, ist echt schräg. Da werden einerseits die Spinde aus dem Umkleidebereich weiträumig bis in die Kantine verteilt, um Schutzabstände einzuhalten – andererseits kommen rund 100 Leute für die Normalschicht zur gleichen Zeit an und stehen dann zur Übergabe bei Schichtwechsel dicht zusammen mit denen, die sie am Arbeitsplatz ablösen. Zur Arbeit kommen viele mit dem überfüllten Shuttle-Bus von der Straßenbahn zum Lager. Wer will bei diesem Durcheinander noch wissen, ob sich jemand mit dem Coronavirus infiziert hat? Ist das nicht Wahnsinn?“
Amazon betreibe „Pandemieschutz auf amerikanische Art“. Im Lager fehle es an Desinfektionsmitteln, in den Hallen werde viel zu selten geputzt, sagt Peter. Glasreiniger werde als „Desinfektionsmittel“ ausgegeben, und nicht selten müssten sich Peter und seine Kolleg*innen von Vorgesetzten anhören, Corona sei doch nur „nur ein normaler Schnupfen“, sie sollten sich nicht so anstellen.
Was der 47-Jährige schlichtweg menschenverachtend findet, ist das Spiel mit der Angst, das der Arbeitgeber treibt. Obwohl Beschäftigte mit Kindern offiziell zwei Wochen zu Hause bleiben dürfen, werde ihnen schon nach einer Woche die Entlassung angedroht. Das betreffe vor allem Alleinerziehende, wenn sie die Kinderbetreuung nicht schnell genug organisieren können. Andere kämen erkältet zur Arbeit, weil sie ihren Job nicht verlieren wollten. Es seien Menschen aus aller Welt, die auf ihr Einkommen angewiesen sind. Genau damit rechne Amazon.'
Tatsächlich wirft die gegenwärtige Krise ein Schlaglicht auf die unhaltbaren Zustände in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Sie sind bei Konzernen verursacht durch ein unendliches Profitstreben – bereits vor Corona. Und sie sind im Gesundheitswesen, in den Schulen und Kitas gekennzeichnet von ideologisch gewollter Unterfinanzierung. Diese Zustände müssen geändert werden. Aber es ist Unfug, bis dahin Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen und Unternehmen einfach zu schließen. Damit diese Themen wieder in öffentlichen Protesten manifestiert werden können, muß schleunigst ein wirkliches Demonstrationsrecht wiederhergestellt werden. Mit online-Demos und ‑Petitionen wird sich gar nichts ändern.