„Aus Angst vor dem Sterben haben wir aufgehört zu leben“

Einen Kontrapunkt zur maka­bren Gedenkshow mit den "Corona-Toten" setzt heu­te ein Gespräch mit einer Pfarrerin auf faz​.net unter obi­gem Titel. Dort ist zu lesen:

»… Krankheit und Sterben wur­den zum Schreckgespenst, die Furcht davor beherrscht alles. Aus lau­ter Angst vor dem Sterben haben wir auf­ge­hört zu leben. Nach einem Jahr star­ren wir immer noch wie das Kaninchen auf die Schlange, wenn es um Corona geht. Das hat Auswirkungen auf das Leben, das Sterben und das Abschiednehmen.

Meinen Sie damit die Corona-Beschränkungen zum Beispiel bei Bestattungen?

Ja, der Trauerprozess wird durch die Begrenzung der Teilnehmer bei Bestattungen schwie­ri­ger. Die Zahl scheint will­kür­lich fest­ge­legt. Es wird kei­ne Rücksicht dar­auf genom­men, wie wich­tig eine Trauerfeier und Beerdigung für Trauernde oder wie groß die zur Verfügung ste­hen­de Kirche oder Kapelle ist. Hut ab vor allen cou­ra­gier­ten Pfarrer*innen, Bestatter*innen und Friedhofsmitarbeiter*innen, die mit Augenmaß zivi­len Ungehorsam üben, wenn die Trauerfeier zum Beispiel nach drau­ßen ver­legt wird und „zufäl­li­ge Zaungäste“ sie ver­fol­gen können…

Ich hal­te das Sars-Cov2-Virus für gefähr­lich und fin­de es gut, dass die Regierung Maßnahmen zur Eindämmung ergreift. Aber ich fra­ge mich, ob die Maßnahmen ver­hält­nis­mä­ßig sind. Wenn sie ein­mal erlebt haben, wie bei einem Trauergespräch gezählt wird, wer teil­neh­men darf und wen man nicht mehr ein­la­den kann, dann wächst ihr Unverständnis für sol­che Verordnungen. Ich erle­be die gro­ße Angst vor dem ein­sa­men Sterben im Krankenhaus und damit auch das Vermeiden von Krankenhausaufenthalten um jeden Preis. Ich erle­be die Trauer über das Allein-las­sen-Müssen von Angehörigen und, damit ver­bun­den, auch ein Schuldgefühl und manch­mal ein Schamgefühl…«

Wer entscheidet denn, wessen Herz bricht?

»Eine Freundin von mir hat es auf den Punkt gebracht. Sie hat gesagt: Wenn wir zu Weihnachten nicht zu mei­nem Vater fah­ren, bricht es ihm das Herz. Wenn wir fah­ren und ihn anstecken, bricht es mir das Herz. Das ist ein Dilemma, das sich nicht auf­lö­sen lässt. Aber wer ent­schei­det denn, wes­sen Herz bricht? Mir scheint, als ob die Generation zwi­schen Dreißig und Sechzig alles dar­an setzt, dass das eige­ne Herz nicht bricht…

Sie plä­die­ren also dafür, Alten- und Pflegeheime, Schulen und Kitas um jeden Preis geöff­net zu halten?

Bei allem Verständnis für Kliniken und Pflegeheime, für Schulen und Kindergärten, die öffent­lich unter Beobachtung ste­hen und die das Donnerwetter und die Häme aus­hal­ten müs­sen, wenn es zu einem Corona-Ausbruch kommt: Das Abriegeln kann nicht die Lösung sein. Ich selbst mer­ke an mir – und ich hal­te mich für reflek­tiert und nüch­tern –, dass ich zuneh­mend weni­ger Verständnis für die immer glei­chen Maßnahmen der Regierungen auf­brin­ge. Die immer glei­chen Stellschrauben wer­den immer straf­fer ange­zo­gen, ohne signi­fi­kan­te Wirkung. Aber nach fest kommt lose…

Dr. Nikola Schmutzler ist 1977 in Meißen gebo­ren und Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens in Auerbach im Vogtland.«

3 Antworten auf „„Aus Angst vor dem Sterben haben wir aufgehört zu leben““

  1. mein herz ist lei­der schon gebro­chen wenn ich sehe was von unse­rer gesell­schaft übrig geblie­ben ist.

    das gern im aus­land zitier­te wort "ger­man-angst" muss aber eigent­lich hei­ssen "ger­man hosenscheisser"!!!

  2. Ich emp­fin­de es seit einem Jahr für unver­hält­nis­mä­ßig und war­um hört man es jetzt etwas aus der Kirche? Wo steht eigent­lich geschrie­ben, dass die alten Leutchen im Pflegeheim noch ein­mal ins Krankenhaus gekarrt wer­den müs­sen? Patientenverfügungen unter­schrei­ben las­sen, dass genau dies nicht pas­sie­ren darf, Sicherheitsmaßnahmen mit Sinn und Verstand umset­zen, aber ohne Kontaktsperren. Und das Leben für alle ande­ren wie­der normalisieren.

  3. "Wenn wir fah­ren und ihn anstecken, bricht es mir das Herz."—Eine Regierung, die es nicht fer­tig­bringt, den Menschen zu sagen: "Wenn ihr nicht krank seid, könnt ihr auch nie­man­den anstecken!", ist in mei­nen Augen nicht wert, wei­ter beach­tet zu wer­den. Das glei­che gilt für Medien, die Menschen mit die­sen Ängsten inter­view­en, ohne sie aufzuklären.

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