Corona-Debatte: Der Staat wühlte während der Pandemie im Abgrund des Autoritären

So lau­tet die Überschrift eines Kommentars des Historikers René Schlott im Rahmen der Debatte auf ber​li​ner​-zei​tung​.de am 31.12.22. Er meint:

»… Corona hat unse­re Sprache verändert
Corona war mehr als ein Medienereignis, wie wir sie heu­te im schnel­len Wechsel aus Wahlen und Abstimmungen, Katastrophen, Kriegen und Krisen, aus Spektakel und Show kon­su­mie­ren. Corona hat unse­re Sprache ver­än­dert. Oft wird „Corona“, die „Pandemie“ oder das „Virus“ für irgend­et­was ver­ant­wort­lich gemacht, etwa für Lockdowns und deren schwe­re psy­chi­sche und phy­si­sche Folgen, oder für Kontakt- und Bewegungsbeschränkungen – deren wis­sen­schaft­li­che Evidenz die Weltgesundheitsorganisation bereits 2019 in Frage stellte.

Doch alle staat­li­chen Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV‑2 beru­hen auf der Entscheidung ein­zel­ner Menschen. Auch wenn immer wie­der von der Politik, den Medien oder der Wissenschaft die Rede war, so muss man sich stets vor Augen hal­ten, dass die­se gesell­schaft­li­chen Teilsysteme aus vie­len ein­zel­nen Individuen bestehen, die zwar inner­halb von Strukturen han­deln, aber jeder ein­zel­ne Akteur für sich in einer demo­kra­ti­schen Gesellschaft auch über einen nicht uner­heb­li­chen Ermessens- und Entscheidungsspielraum ver­fügt...

Auch wenn Verantwortungsträgerinnen und ‑trä­ger die­ses Landes aus Wissenschaft, Politik und Medien sich oft auf das „Virus“ als han­deln­des Subjekt berie­fen, dass weder Feiertage, noch Grundrechte ken­ne, konn­te das „Virus“ selbst nichts schlie­ßen, anord­nen oder ver­bie­ten. Es waren stets Menschen, die über den Umgang mit ihm entschieden.

Dabei wur­den die Grenzen zwi­schen pri­vat und öffent­lich aus den Angeln geho­ben, wur­de das ver­än­dert, was wir bis­lang unter „Normalität“ ver­stan­den hat­ten, wur­de das Verhältnis von Bürger und Staat nach­hal­tig ver­scho­ben. Und zum ersten Mal in ihrem Leben haben vie­le Menschen ihre Mitmenschen oder den Staat als Bedrohung wahrgenommen.

Ein Brief an Eltern

All die­se Entwicklungen bün­delt exem­pla­risch ein Brief, den eine Berliner Familie mit drei Kindern im März 2021 vom zustän­di­gen Gesundheitsamt – wei­ter­ge­lei­tet per E‑Mail von der Kindertagesstätte ihres jüng­sten, damals fünf Jahre alten Sohnes – erhielt. Von die­sem Kind, das sich selbst nicht mit Corona infi­zier­te, sich aber sofort in „häus­li­che Isolation“ zu bege­ben hat­te, ist in dem Schreiben als „enge Kontaktperson (Kategorie I)“ die Rede, die in dem Schreiben akri­bisch defi­niert wird.

„Als enge Kontaktpersonen gel­ten alle Personen, die bei weni­ger als 1,5 Metern Abstand in einem Zeitraum von über 15 Minuten ohne wirk­sa­me Schutzmaßnahmen (Alltagsmasken, Lüften) Kontakt zu einer mit dem SARS-Cov-2-Virus infi­zier­ten Person hat­ten. Weiterhin sind enge Kontaktpersonen die­je­ni­gen, wel­che sich über 30 Minuten im glei­chen Raum mit einem Covid-19-Fall auf­ge­hal­ten haben. Bitte beach­ten Sie: Ein Mund-Nasen-Schutz allein schützt nicht vor Aerosolen. Ein län­ge­rer Aufenthalt in einem Raum, in dem nicht regel­mä­ßig gelüf­tet wur­de, führt auch zur Einstufung als enge Kontaktperson.“

Darauf folgt in dem Brief eine Liste mit detail­lier­ten „Hinweisen“ an die „Erziehungsberechtigten“: 

„Als Elternteil einer engen Kontaktperson müs­sen Sie nicht in Quarantäne. Achten Sie jedoch dar­auf, dass sich Ihr Kind best­mög­lich von Ihnen iso­liert. Lüften Sie viel! […] Bitte beach­ten Sie alle Regeln, damit Sie nie­man­den anstecken. Wenn Sie gegen die Regeln der Allgemeinverfügung ver­sto­ßen, kann das Bußgeld bis zu 25.000 Euro betra­gen (§73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG). […] Der Berliner Krisendienst unter­stützt Menschen in Quarantäne bei psy­chi­schen oder sozia­len Problemen: 030 39063 111. […] Mit freund­li­chen Grüßen. Im Auftrag.“

… Die Mutter eines gesun­den fünf­jäh­ri­gen Kindes wur­de unmiss­ver­ständ­lich und unter Androhung einer Geldstrafe dazu auf­ge­for­dert: „Achten Sie […] dar­auf, dass sich Ihr Kind best­mög­lich von Ihnen isoliert.“…

Irgendjemand hat diese ganzen Briefe getippt, abgenommen, redigiert

Mich beschäf­tig­te sei­ner­zeit, genau wie zuvor bei den flä­chen­decken­den, prä­ven­ti­ven Spielplatzschließungen in ganz Deutschland im Frühjahr 2020, noch ein ande­rer Gedanke: Ein sol­ches Schreiben fällt ja nicht vom Himmel, son­dern es ent­steht in einem fein zise­lier­ten Verwaltungsablauf, in einem mehr­stu­fi­gen und aus­dif­fe­ren­zier­ten arbeits­tei­li­gen Prozess unter Beteiligung unter­schied­li­cher Personen mit ver­schie­de­nen Kompetenzen.

Jedes behörd­li­che Schreiben ist Gegenstand von Besprechungen und Absprachen, von Kompetenzstreitigkeiten, Zuständigkeits- und Abgrenzungsfragen. Jedes Schreiben durch­läuft sehr wahr­schein­lich meh­re­re Korrekturgänge, muss getippt und ver­sandt wer­den. Selbst schein­bar bana­le Formatierungsfragen, wie Hervorhebungen man­cher Sätze durch Unterstreichung oder Fettschrift, so auch beim zitier­ten Schreiben, wer­den Gegenstand der Diskussion gewe­sen sein.

Ist aber in der Beschäftigung mit den Details des vier­sei­ti­gen Papiers aus den oben zitier­ten Minuten- und Meterangaben nie­man­dem der Geist auf­ge­fal­len, der aus ihm spricht, der auto­ri­tä­re Abgrund, der sich auf­tut? Gab es Widerspruch zur Aufforderung, Kleinkinder zu iso­lie­ren, gab es Einwände, Gewissensbisse, Gedanken dar­an, was es in sozia­ler und psy­chi­scher Hinsicht für die kind­li­che Entwicklung eines fünf­jäh­ri­gen Jungen bedeu­ten kann, zwei Wochen in einem Zimmer iso­liert zu sein? Konnten sich die am Zustandekommen des Schreibens betei­lig­ten Personen vor­stel­len, dass die Aufforderung „Lüften Sie viel!“ oder der knap­pe Hinweis auf die Telefonnummer des Berliner Krisendienstes bei psy­chi­schen Problemen den Briefempfängern wie Hohn erschei­nen könnte?

Oder haben die Verwaltungsbeamtinnen und ‑beam­ten nur ihren Job gemacht, wie man so unschön sagt, und sich trotz per­sön­li­cher Zweifel gesagt, in einer Pandemie sei so etwas eben „nor­mal“ und „auf­grund des Bevölkerungsschutzes“ not­wen­dig? Hat sich die Unterzeichnerin vor Augen geführt, an wie vie­le unter­schied­li­che Personen die­ser immer glei­che Brief geht, auf wie vie­le unter­schied­li­che Wohn- und Familienverhältnisse er trifft? Oder ist es das Wesen der Verwaltung, sol­che Rücksichtnahmen nicht zu ken­nen, son­dern ein­fach zu jedem Zeitpunkt zu „funk­tio­nie­ren“, und ver­weist dies auf ein grö­ße­res Phänomen, das uns auch zukünf­tig und über Corona hin­aus beschäf­ti­gen muss? Die Entindividualisierung des fünf­jäh­ri­gen Jungen als „enge Kontaktperson (Kategorie I)“ soll­te uns zu den­ken geben…«

12 Antworten auf „Corona-Debatte: Der Staat wühlte während der Pandemie im Abgrund des Autoritären“

  1. Meiner Meinung nach haben Behörden ein bestimm­tes Selbstverständnis, das immer wie­der in dem Satz gip­felt: „Aber wir sind immer noch eine Behörde!“ Ein ande­rer Umgang mit Bürgern ist also offen­bar nicht möglich.
    So erle­ben es Bürgerinnen und Bürger: die Behörde ver­gibt Termine, lässt Nummern zie­hen, wahl­wei­se in kar­gen Warteräumen oder auf zugi­gen Fluren war­ten, stun­den­lang vor Countern ste­hen und vor Schreibtischen auf ein­fa­chen Stühlen sit­zen. Vertreter jed­we­der Behörde fra­gen (ger­ne auch ohne Privatsphäre) in Großraumbüros Informationen ab und zei­gen hier und da ger­ne die kal­te Schulter, Sachlichkeit vorspielend.
    Warum man das tut? Weil man es kann (schließ­lich ist man „Vertreter des Staates“ und das Gegenüber nur ein Bittsteller.)
    Das erklärt auch, wie­so sol­che unter­ir­di­schen Briefe rausgehen.

    1. https://​www​.coro​dok​.de/​w​i​r​r​e​-​w​e​g​e​-​l​a​b​y​r​i​n​th/

      Wer sich mei­nen Selbstgesprächen, sie­he "Wirre Wege" oben, anschlie­ßen möch­te, just have a look. Ich fin­de den aktu­el­len Artikel der Berliner Zeitung sehr tref­fend, weil er genau das aus­drückt, was mich so der­art irri­tiert. Was darf der Staat? Was dür­fen die Behörden? Und: es ist eine sprach­li­che Ungenauigkeit zu sagen, "wegen Corona durf­te kei­ner raus." Das ist falsch, es muss immer hei­ßen: Die MAßNAHMEN hat­ten die­se oder jene Auswirkung. Es waren immer Menschen, die sol­che unglaub­lich bedrücken­den Maßnahmen getrof­fen und for­mu­liert haben.

      Ich habe das­sel­be über die letz­ten Wochen und Monate ver­sucht, mit den elen­den "Absonderungsregeln" des Bundeslands Niedersachsen darzustellen.

      ~ ~ ~

  2. Das Beste kommt eigent­lich zum Schluß des Artikels, wenn über die "Nashörner" gespro­chen wird. 🙂

    Hab mich schon gefragt, ob die sich jetzt alle lang­sam wie­der zurückverwandeln??

  3. Die übli­che Vorgehensweise. Lesen Sie Putlitz, der schreibt auch dar­über wie das in der Weimarer Republik prak­ti­ziert wurde.

  4. digitale Kommunikation der Bürger soll für den Staat komplett transparent sein...Exekutivorgane löschen ihre Kommunikation routiniert & rechtswidrig sagt:

    Norbert Häring Retweeted
    Martin Sonneborn
    @MartinSonneborn
    Lustig,
    die digi­ta­le Kommunikation der Bürger soll für den Staat kom­plett trans­pa­rent sein, 

    die uns gegen­über ver­ant­wort­li­chen Exekutivorgane löschen ihre Kommunikation rou­ti­niert & rechtswidrig… 

    #EuropaNichtDenLeyenÜberlassen
    Translate Tweet
    https://​pbs​.twimg​.com/​m​e​d​i​a​/​F​l​j​p​1​Q​i​X​0​A​E​Y​l​S​Z​?​f​o​r​m​a​t​=​p​n​g​&​n​a​m​e​=​s​m​all
    3:16 PM · Jan 3, 2023
    https://​twit​ter​.com/​M​a​r​t​i​n​S​o​n​n​e​b​o​r​n​/​s​t​a​t​u​s​/​1​6​1​0​2​9​4​0​4​4​2​0​2​0​0​0​3​8​5​?​c​x​t​=​H​H​w​W​g​o​C​z​i​d​n​5​9​N​g​s​A​AAA

  5. Die Dauerausrede ist und war ja "es sei schließ­lich Pandemie" und damit las­sen sich ja teil­wei­se bis heu­te Willkür und Schikane nach Belieben am Bürger anwen­den. Auf das Geplapper, dass das Virus an allem schuld wäre, ant­wor­te ich auch immer, dass es alles nur von der Politik befoh­len wur­de und kei­ne der Maßnahmen "gott­ge­ge­ben" ist/war.
    Das ist ja wie über­all im Alltag, wenn der Bürger Kontakt mit einem Ansprechpartner eines Unternehmens, einer Behörde oder wie auch immer gear­te­ten Institution auf­nimmt. Man ver­weist immer nur dar­auf, dass es "von oben so ange­wie­sen wäre" und man sel­ber nichts genaue­res wüß­te und nur die Anweisung zur Umsetzung befol­gen müss­te. Die Verantwortlichen, die sich oft in Härte und Strafen noch gegen­sei­tig über­bie­ten wol­len, haben ja kei­ne direk­ten Berührungspunkte mit den direkt davon betrof­fe­nen Bürgern, son­dern haben ihre "Handlanger", die nur als Vollzugshelfer bzw. Vallsallen dienten.

    1. Wir soll­ten den Spieß umkeh­ren, selbst den Ekel raus­hän­gen las­sen, und auf Nachfrage erklä­ren, dass eben lei­der Pandemie und dies die neue Normalität sei.

  6. Noch erschrecken­der, als die Anordnung zur Isolierung von Kindern in der eige­nen Wohnung, ist doch, dass es Eltern gab, die sich auch noch dar­an gehal­ten haben. Das wis­sen wir, weil man­che dies sogar noch mit Videos doku­men­tiert und auf Social Media geteilt haben. Anstatt sich zu schä­men, woll­ten die­se Menschen auch noch allen zei­gen, was für tol­le Vorbilder sie doch sind.

  7. "Oder haben die Verwaltungsbeamtinnen und ‑beam­ten nur ihren Job gemacht, wie man so unschön sagt,…"

    Da war doch mal was .…

    Erklärung für vieles

    Nennt man ""Bei der Stange halten":

    https://​www​.mer​kur​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​g​e​h​a​l​t​-​i​n​f​l​a​t​i​o​n​-​g​e​l​d​-​e​u​r​o​-​n​a​c​h​z​a​h​l​u​n​g​-​b​e​a​m​t​e​-​l​e​h​r​e​r​-​s​c​h​u​l​e​-​s​o​l​d​-​z​r​-​9​1​9​7​9​1​8​9​.​h​tml

    ——————————————————————————

    https://​media​.get​tr​.com/​g​r​o​u​p​8​/​g​e​t​t​e​r​/​2​0​2​3​/​0​1​/​0​4​/​1​1​/​5​4​9​4​b​5​c​c​-​7​0​0​f​-​1​6​a​8​-​3​d​9​4​-​2​9​a​b​4​7​b​1​4​6​8​5​/​0​a​0​a​1​d​c​f​e​a​4​3​1​3​5​d​2​3​a​4​d​8​6​0​6​a​e​4​d​1​3​7​.​jpg

    https://nitter.net/pic/media%2FFlnA-A_XwAE5Mnn.jpg%3Fname%3Dsmall

    hen­ning rosenbusch

    „Und genau dar­um geht es: Transparenz. Die Glaubwürdigkeit ver­liert sich in der Verschleierung. User, die nicht wis­sen, ob und war­um sie „geb­lack­li­stet“ wur­den, oder der Ausschluss von Wissenschaftlern aus der Diskussion über glo­bal rele­van­te Themen sind durch­aus als demo­kra­tie­ge­fähr­dend zu betrachten.“

    https://​www​.welt​.de/​k​u​l​t​u​r​/​p​l​u​s​2​4​2​9​8​6​3​4​9​/​T​w​i​t​t​e​r​-​F​i​l​e​s​-​D​a​s​-​g​a​n​z​e​-​A​u​s​m​a​s​s​-​d​e​r​-​B​e​e​i​n​f​l​u​s​s​u​n​g​.​h​tml

    https://​www​.welt​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​d​e​u​t​s​c​h​l​a​n​d​/​a​r​t​i​c​l​e​2​4​3​0​0​9​7​4​9​/​D​e​u​t​s​c​h​l​a​n​d​-​V​e​r​t​r​a​u​e​n​-​i​n​-​a​l​l​e​-​p​o​l​i​t​i​s​c​h​e​n​-​I​n​s​t​i​t​u​t​i​o​n​e​n​-​s​i​n​k​t​-​d​r​a​s​t​i​s​c​h​.​h​tml

    https://​www​.rnd​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​f​r​e​i​h​e​i​t​s​i​n​d​e​x​-​2​0​2​2​-​d​e​u​t​s​c​h​e​-​f​u​e​h​l​e​n​-​s​i​c​h​-​n​a​c​h​-​c​o​r​o​n​a​-​w​i​e​d​e​r​-​f​r​e​i​e​r​-​d​e​m​o​k​r​a​t​i​e​s​k​e​p​s​i​s​-​s​t​e​i​g​t​-​T​Y​D​X​M​5​E​3​Q​Z​D​L​T​D​5​N​M​A​O​Q​3​3​T​W​Q​Y​.​h​tml

    Und so reagiert man darauf

    https://​de​.rt​.com/​m​e​i​n​u​n​g​/​1​5​8​7​8​6​-​f​r​e​i​h​e​i​t​-​s​c​h​m​a​e​h​b​e​g​r​i​f​f​-​m​e​d​i​e​n​p​r​o​j​e​k​t​-​k​u​e​r​t​-​f​l​o​s​k​el/

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