Dieses schöne Zitat muß nun zum zweiten Mal ran. Es beschreibt eindrucksvoll, wie der Tagesspiegel den gestrigen Tag verarbeitet.
»Mit der Selbsthypnose haben Sie ein wundervolles Werkzeug an der Hand, von dem Sie vielfältig profitieren können. Unter anderem können Sie mit der Selbsthypnose Stressmanagement betreiben, Ihr Immunsystem ankurbeln oder lang ersehnte Ziele erreichen. Aber das Schönste daran ist, dass die Selbsthypnose keinerlei Arbeit macht und auch ohne langwierigen Lernprozess funktioniert. Sehen Sie es einfach als Kurzurlaub an, als Momente der Entspannung in einer hektischen Welt.«
Das empfiehlt der Deutsche Verband für Hypnose e.V. (DVH).
Merkwürdigerweise unter diesem Link https://www.tagesspiegel.de/politik/polizei-wollte-keine-eskalation-riskieren-haette-die-corona-grossdemo-geraeumt-werden-muessen/26059532.html fragt die Zeitung »Hätte die Corona-Großdemo geräumt werden müssen?« und teilt mit:
»Auffällig viele Menschen aus Süddeutschland, besonders aus dem Raum Stuttgart, hatten sich auf den Weg in die Hauptstadt gemacht, um gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu protestieren.«
Wie schon beim Regierenden Bürgermeister wird die vermeintliche Abneigung der BerlinerInnen gegen "die Schwaben" getriggert. Nicht angesprochen wird die Vermutung, daß jene über jahrelange Erfahrungen mit Falschinformationen über Stuttgart 21 verfügen könnten und sich auch deshalb hier einfinden.
Das Blatt sieht »spirituell angehauchte Verschwörungstheoretiker, die der drohenden Räumung der Polizei Meditationen in Yoga-Pose entgegensetzten« und »eher harmlos anmutende verschwurbelte Demonstranten«, aber vor allem Rechtsradikale jeder Art. Sie »eint jahrelang gewachsenes Misstrauen gegen Medien, Politik, und der Glaube an alternative Wahrheiten…«
Vor allem weiß die Zeitung:
»Das Weltbild vieler Protestler ist geprägt durch Verschwörungsideologien wie die der jüdischen Weltverschwörung oder des durch Bill Gates gezüchteten Coronavirus.«
Nicht, daß ein einziges Plakat oder eine Parole als Beleg gebracht würde. Selbsthypnose benötigt das nicht.
Die Tatsache, daß die Menschenmenge sich absolut friedlich verhielt, wird gekontert mit dem Wissen:
»Ein harter Kern der Demonstranten – bekannte Rechtsextremisten und Reichsbürger – ist laut Sicherheitskreisen gewaltbereit.«
Ohne Maske, ohne Respekt, ohne Scham
So ist ein weiterer Beitrag überschrieben. Voller Entsetzen registriert die Journalistin: »Polizei ist lange kaum zu sehen, obwohl die Hygieneregeln nicht eingehalten werden«. Was hätte sie gewollt? Selbst wenn es nur 20.000 DemonstrantInnen gewesen sein sollten, hätten sie festgenommen werden sollen? Eingewiesen? An den Pranger gestellt?
»Die Polizei spricht von 20.000 Demonstranten – die Veranstalter von 1,3 Millionen. Aber Fakten zählen hier nicht. Zu jeder Tatsache gibt es schließlich eine vermeintliche "Alternative".«
Genau dieses Verständnis von Journalismus treibt die Menschen auf die Straße. Fakt ist die Angabe der Polizei. Wäre die Alternative vielleicht das eigene Zählen? Paradoxerweise wird man vermutlich im Tagesspiegel Berichte finden über das Verschleiern von racial profiling, über das Vertuschen rechtsradikaler Netzwerke bei der Polizei, über dutzende von Gerichten aufgehobene Verbote von Veranstaltungen. Im Corona-Kontext dagegen gilt jede noch so absurde Zahl der Polizei als Fakt.
„Irrer Protest“ auf der Straße des 17. Juni
Das ist die Überschrift eines dritten Beitrags mit erwartbarem Inhalt:
»Bei der rechtsoffenen Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin-Mitte beteiligten sich am Nachmittag laut Polizeiangaben 20.000 Menschen. Die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci verurteilte den Protest gegen die Hygieneregeln.«
Die Selbsthypnose des Tagesspiegels steht stellvertretend für nahezu alle Medien. Nirgends eine Information über das Anliegen, darüber, was die Kritikpunkte sind. Kein einziges Interview mit den VeranstalterInnen. Statt dessen Berichte vom Hörensagen, das duckmäuserische Vertrauen auf Angaben der Polizei.
Das Vorgehen erinnert an ein spaßiges Erlebnis bei den Protesten gegen die G8 in Heiligendamm 2007. Viele hundert Menschen saßen friedlich auf den Schienen der Zubringerbahn für den Gipfel und hielten sie tagelang besetzt. Darüber berichtete der anwesende Fernsehreporter sachlich. Am Ende fügte er ein, daß ihm aus dem Studio berichtet werde, daß es hier, an dieser Stelle wohl gerade zu gewalttätigen Auseinandersetzungen komme… "Und nun zum Sport."