Eine verbotene Abi-Rede

Dem aktu­el­len Newsletter des "Hamburger Abendblatts" ent­neh­me ich einen Artikel, der bereits am 22.6. erschien. Es geht um eine unge­hal­te­ne Rede, die zu "Corona-kri­tisch" war:

»GYMNASIUM BLANKENESE
Die Abi-Rede, die am Anfang eines Hamburger Eklats stand

Hamburg. Eigentlich woll­te die Bestsellerautorin Katharina Hagena auf der Abiturentlassungsfeier des Gymnasiums Blankenese eine Abschiedsrede an die Schulabgänger hal­ten. Hagenas Tochter ist in die­sem Jahr Abiturientin, und Eltern des Gymnasiums wünsch­ten sich die renom­mier­te Schriftstellerin Hagena als Rednerin. Womit die­se sich unver­mu­tet zwi­schen den Fronten wie­der­fand. In Blankenese strei­ten der­zeit Schul­leitung und wei­te Teile der Elternschaft.

Ein Zwist, der nun in einen Eklat bei der Abi-Feier mün­de­te: Die Rede, von der Katharina Hagena sagt, sie hät­te „ein Zeichen der Versöhnung“ set­zen kön­nen, durf­te nach einer Intervention der Schulleitung nicht gehal­ten wer­den. Das Abendblatt doku­men­tiert die Rede auf die­ser Seite…

Die Rede von Bestsellerautorin Katharina Hagena

Liebe Abiturient*innen,

eine muti­ge, klu­ge Frau schrieb, als sie unge­fähr in Ihrem Alter war, ein Gedicht, das mir in der letz­ten Zeit manch­mal in den Sinn kam, wenn ich an Sie, den Corona-Abi-Jahrgang 21, dach­te. Ich sah Sie vor mir, in Ihren Klassenräumen sit­zend, erst mit Baumwoll‑, spä­ter mit Zellstoffmasken:

Das Gedicht, an das ich dach­te, ist aus der Romantik und heißt „Die Töne“:

Ihr tie­fen Seelen, die im Stoff gefangen,
Nach Lebensodem, nach Befreiung ringt;
Wer löset eure Bande dem Verlangen,
Das gern melo­disch aus der Stummheit dringt?
Wer Töne öff­net eurer Kerker Riegel?
Und wer ent­fes­selt eure Aetherflügel?

Ohne mich mit Aluhüten gemein­zu­ma­chen, erschie­nen mir doch unser aller Seelen zuwei­len im Stoff der par­ti­kel­fil­trie­ren­den Halbmasken gefan­gen, nach Lebensodem rin­gend und auf die Entfesselung unse­rer Ätherflügel oder wenig­stens unse­rer Nasenflügel hoffend…

Es gibt nichts zu beschö­ni­gen, Ihre Oberstufe stand ganz im Zeichen der Pandemie, und die mei­ste Zeit über tru­gen Sie Stoffmasken im Unterricht, wenn es einen sol­chen über­haupt gab. Es ist sicher nicht leicht, zum Beispiel offe­ne Fragen zu beant­wor­ten, wenn das Gesicht halb bedeckt ist. Es ist schwer, frei und nach Herzenslust zu spre­chen, wenn doch die „Seele im Stoff gefan­gen“ zu sein scheint.

Person selbst ist die Maske

Die Maske ist den­noch ein viel­schich­ti­ges Ding. Ihre unsicht­ba­re Innenseite schmiegt sich an unser Gesicht, nimmt sei­ne Form in sich auf, bil­det dort Mulden, wo unse­re Züge nach außen drän­gen. Die äuße­re Seite selbst kön­nen wir nach unse­rem Willen gestal­ten. Und doch gibt es Löcher in jeder Maske, durch die Äußeres nach innen und Inneres nach außen gelangt – und sei es nur unse­re Atemluft.

Wir bemü­hen uns zwar immer, die Person hin­ter einer Maske zu erken­nen, aber eigent­lich ist die Person selbst die Maske: Mit dem Begriff „per­so­na“ war in der Antike die Theatermaske gemeint. Diese klas­si­sche per­so­na hat­te – im Gegensatz zur Corona-Maske – am Mund eine Öffnung, sodass die Stimme hin­durch­klin­gen konn­te, was auf Lateinisch eben „per-sona­re“ heißt. Also nicht die Maske, son­dern, das, was durch die Maske dringt, bestimmt das Wesen eines Menschen, macht ihn zu einer Person…

Ich schla­ge jetzt den „blau­en Bogen“ zurück zu Karoline von Günderrodes Gedicht. Dort heißt es in der zwei­ten Strophe:

Einst, da Gewalt den Widerstand berühret,
Zersprang der Töne alte Kerkernacht;
Im wei­ten Raume hier und da verirret
Entflohen sie, der Stummheit nun erwacht,
Und sie durch­wan­del­ten den blau­en Bogen
Und jauchz­ten in den Sturm der wil­den Wogen.

Hamburgs Abiturienten: Sie sind bereit

Liebe Abiturient*innen, es ist in Ihrer Oberstufenzeit ganz klar zu wenig gejauchzt wor­den. Sie konn­ten sich zudem nicht annä­hernd genug „im wei­ten Raume“ ver­ir­ren. Sie wohn­ten zu lan­ge in der „dunk­len Kerkernacht“, die näm­lich genau in jenem stump­fen Winkel zwi­schen Tastatur und Bildschirm herrscht. Doch heu­te knacken Sie ein erstes wich­ti­ges Schloss, sto­ßen die Türen und ja, viel­leicht auch Kerker auf. Sie ergrei­fen Raum.

Mögen Sie, lie­be Abiturient*innen, in Zukunft alle wei­ten Räume, sowohl Ihre inne­ren als auch die äuße­ren Räume, erkun­den kön­nen. Mögen Sie Ihre Masken ken­nen und Ihre Stimmen klar durch sie hin­durch­klin­gen las­sen. Mögen Sie die Bögen aller Farben durch­wan­deln. Mögen Sie weit Ihre Ätherflügel auf­span­nen. Und mögen Sie sich jauch­zend in den Sturm des wild wogen­den Lebens hin­ein­wer­fen. Sie haben sich genug vor­be­rei­tet. Sie sind bereit.«

27 Antworten auf „Eine verbotene Abi-Rede“

  1. Hach, ist das herr­lich und refe­rie­rend auf die Poeten, die Deutschland her­vor­ge­bracht hat. Toll!
    Ich erin­ne­re mich an mei­nen Sozialwissenschaften-Lehrer , der uns , es war 2003–2004 uns regel­mä­ßig Volker Pispers vor­ge­spielt hat. Dieser hat­te ähn­lich geschicht­li­che Bezüge und Wortgewandheit. Das hat mich tat­säch­lich bis heu­te beeinflusst.
    Schade,dass sich Volker Pispers heu­te kaum mehr zu Wort meldet.
    Wo seid ihr Kabarettisten heute?

  2. Apropos Kerkernacht: Campen in den Sommerferien ist gera­de total hip. Und zwar ohne Eltern! Man dis­ku­tiert noch, ob man die Handies zu Hause lässt.

  3. Also wem so eine Rede zu "kri­tisch" ist, der akzep­tiert offen­bar nur noch Aussagen wie: "Maske ist super, und über­haupt war das letz­te Schuljahr eines der schön­sten ever. So soll­te es eigent­lich wei­ter­ge­hen – Masken für immer!"

    Ein armes Schwein, wer heu­te zur Schule gehen muss bei einem der­art hirn­ver­brann­ten Lehrkörper. (Dabei war es schon vor­her kein Vergnügen und konn­ten Pädagog/innen "Bildung" und "Mündigkeit" kaum noch buchstabieren.)

  4. Die Rede von Katharina Hagena, hat mich sehr berührt, eine sehr poe­ti­sche, klu­ge Kritik am Umgang mit Jugendlichen, die aber auch sehr viel Mut macht, aus­zu­bre­chen und Neues zu wagen. "Und mögen Sie sich jauch­zend in den Sturm des wild wogen­den Lebens hin­ein­wer­fen." – Das kann man den Abiturienten und uns allen nur wünschen!
    Vielleicht waren wir ja alle auch vor "Corona" schon zu sehr ein­ge­fro­ren, ein­ge­spannt, beschäf­tigt mit den "wich­ti­gen Dingen" und haben das nur nicht mehr wirk­lich wahrgenommen.

  5. Eine wun­der­ba­re Rede, bis auf die Aussage zu den Aluhüten.
    Wie klein­lich müs­sen die Menschen sein, die über die­se Rede strei­ten. Was sagen denn die Abiturienten zu den Aussagen die­ser Rede. Die hat man wahr­schein­lich gar nicht gefragt. Armselig!

  6. Irgendwann begrei­fen auch die fast blö­de­sten, daß sie selbst gecan­celt wer­den. Bis dahin hof­fen wir auf vie­le Hagenas.

  7. Oh schööön. 🙂 Da kann aber jemand gut schreiben. 

    "..Wir bemü­hen uns zwar immer, die Person hin­ter einer Maske zu erken­nen, aber eigent­lich ist die Person selbst die Maske: Mit dem Begriff „per­so­na“ war in der Antike die Theatermaske gemeint. Diese klas­si­sche per­so­na hat­te – im Gegensatz zur Corona-Maske – am Mund eine Öffnung, sodass die Stimme hin­durch­klin­gen konn­te, was auf Lateinisch eben „per-sona­re“ heißt. Also nicht die Maske, son­dern, das, was durch die Maske dringt, bestimmt das Wesen eines Menschen, macht ihn zu einer Person… "

    Lange schon hat­te ich gewar­tet auf die Bezugnahme zur Theatermaske und Person.

    Person- was bedeu­tet: durch die Maske hindurch.

    Ich wun­der­te mich bereits ob das Bildungsbürgertum die Literatur und Kunst als Quell euro­päi­scher Politik so mir nichts dir nichts auf­gibt und durch das kul­tur­lo­se, dump­fe Einerlei der FFP2 Person ersetzt.

  8. "Doch heu­te knacken Sie ein erstes wich­ti­ges Schloss, sto­ßen die Türen und ja, viel­leicht auch Kerker auf. Sie ergrei­fen Raum."

    Hallo, wel­che Türen sol­len das sein? Die zur Universität, in der kei­ne Universität statt­fin­det? Zum selbst­be­stimm­ten Leben, in dem alles ver­bo­ten ist?
    Vielleicht die zur Arbeitswelt (Maske-"Impfung" oder kein Job)?
    Hört doch mal auf, solch oppor­tu­ni­sti­sches Gelaber auch noch zu begrüßen.
    Stellen wir doch mal fest: die Systemlinge haben die­se Rede verhindert.
    Sie hät­ten jede Rede ver­hin­dert, die eine abwei­chen­de Ansicht ver­tre­ten hät­te. Aber eine, die ernst­haf­ten Protest aus­drückt, abzu­drucken hät­te sich dann wenig­stens gelohnt.
    Was kommt jetzt als Reaktion? Oh, das hat sie aber schön gesagt.
    Nee, hat sie nicht. Nur gedacht.

    1. @Renzo: ok, HÄTTE sie gesagt 😉 Doch der Text hat auf­se­hen erregt und es ins Hamburger Abendblatt geschafft. Das ist groß­ar­tig. Die Schüler, Eltern und Lehrer am Gymnasium und vie­le wei­te­re, Politiker, Beamte, Bürger, wer­den ihn lesen und dis­ku­tie­ren, er wird sie berühren. 

      Weil hier Punkte berührt wer­den, die Literatur, das klas­si­sche Theater, die hohe Kunst. Die gebil­de­ten Hanseaten wer­den den Gedichten einer Karoline von Günderrode nichts abspre­chen. Sie wer­den dar­über nach­den­ken und viel­leicht fin­den, dass so eini­ges mehr an klas­si­schen Werken in den Kontext Corona passt. Von denen ich, aus dem steh­greif, wenig ken­ne. Ein Gymnasiallehrer aus Eppendorf, ein Germanist, ein Literat jedoch um so mehr.

      Die euro­päi­sche Literatur ist oppositionell 🙂

      1. Darauf gibts nur Harry Potter: "Träum weiter!"

        @Marlene: Sie haben sie ver­bo­ten. Und Schüler hat man noch nie gefragt, jeden­falls nicht im Ernst, was sie über die Abschlussrede den­ken (würden,wenn sie sie denn kennten/gehört hät­ten usw.).

        @ A.U.: des­halb geht mein Kind seit einem hal­ben Jahr nicht mehr hin, und was soll ich sagen, es hat ihm nicht gescha­det. Kein Maulkorb, kein Test kei­ne Gängelei und zen­sür­lich sor­gar verbessert.

        1. @Renzo: Ja 🙂 Man kann ler­nen sei­ne Träume zu beein­flus­sen. (Stichwort Traumarbeit). Träume wer­den nach dem Erwachen sofort auf­ge­schrie­ben (Stift und Zettel direkt nebens Bett legen), man führt ein Traumtagebuch. Vor dem Schlafengehen nimmt man sich was schö­nes vor von dem man träu­men möch­te und wünscht es sich oft und fest. Z.b. flie­gen zu kön­nen. Mit Übung erlangt man dadurch im Traum die­se Handlungsfreiheit.

          In Bezug auf den Wachzustand: Die Geschichten, die wir uns selbst erzäh­len bestim­men unser Sein in der Welt.

          1. via regia…is schon klar.
            Den letz­ten Satz möch­te ich gern – mit Verlaub und nur für mich – gern so for­mu­lie­ren (ja sap­per­lot hots denn hia koi kursiv?):
            Die Geschichten, die wir uns selbst erzäh­len bestim­men unse­re Sichtweise auf das Sein in der Welt.
            Und was die Literatur betrifft, so hab ich ja gar nichts gegen das Lesen, nur lei­der scheint es im Moment nur denen zu hel­fen, die sich hel­fen las­sen wol­len, den ande­ren gehts offen­sicht­lich am Allerwertesten (vul­go Arsch) vorbei.
            Wenn Heine gesperrt wird, nei­ge ich zur Ansicht, daß Literatur nicht mehr wirk­lich wei­ter­hilft. Romantik eh mal nicht, ist aber ein ande­res Thema.
            @Bri: ist ja oft so, daß der Text nur den Mantel für die insi­der­info dar­bie­tet, nützt aber nix, wenn man nicht ohne wei­te­res erken­nen kann, wer dar­un­ter nackt ist.
            Dann bekommt man eben wie bei Herrn Schmidt nur eine Geschichte, ver­fehlt aber den Hintergrund.

      2. @info
        Ja, er wird berühmt. Und? Was macht das schon? Die Leute dis­ku­tie­ren dar­über!? Nein! Sie ver­ur­tei­len es als Leugnung der Maskenpflicht oder der Pandemie!
        Renzo hat völ­lig Recht!

  9. Asche auf mein Haupt. Diesen Artikel woll­te ich schon vor Wochen hier anbrin­gen und habe es ver­geigt. Corona beding­te Vergesslichkeit, natür­lich. Da scheint mir das Long-Lockdown-Syndrom zur Wirkung zu kom­men. Aber zum Glück fand der poe­ti­sche wie gleich­falls poli­ti­sche Text den­noch den Weg hier­her. Leider kann das Gymnasium im schön­sten Hamburger Stadtteil (jaja, St. Pauli ist auch schön), in dem die Villen der Hamburger Pfeffersäcke seit 200 Jahren im Verein mit dem alten Fischerdorf und des­sen Lotsentradition das hohe Elbufer zie­ren, die­se ein­ma­li­ge Abiturrede gar nicht wert­schät­zen, sind sie doch zu sehr mit ihren schul­in­ter­nen Differenzen und Problemen befasst. Und so geht die Pflüsterpropaganda um, dass es so eini­ges im Text gab, was star­ke Bezüge zu die­sen Vorgängen und dem unbe­lieb­ten Direktor erken­nen las­sen könn­te, wes­halb die Rede eigent­lich ver­bo­ten wurde.
    Aber ins­ge­samt ist viel los an Hamburgs Schulen der­zeit. Wenn es hier eini­ge Threads zuvor heißt: "Wenn die Lust am Leben eska­liert", soll­te man dabei viel­leicht nicht nur an die Jugend den­ken. Auch Lehrer kön­nen durch die Wiedererlangung der Lebenslust mal über die Stränge schla­gen. So gesche­hen am Kaifu-Gymnasium, am Kaiser-Friedrich-Ufer, das als Party-Superspreader-Location mit Dauer-Polizeieinsatz auch hier schon Erwähnung fand. So auch kürz­lich mit­ten in der Nacht. Zu dumm nur, dass die Uniformierten sich heut­zu­ta­ge für alles zustän­dig füh­len, und so stell­ten sie ver­däch­ti­ge Beleuchtung inner­halb des Schulgebäudes in der Aula fest. Nach eini­gen Bemühungen konn­te ihnen Zutritt ver­schafft wer­den, die hell erleuch­te­te Aula jedoch fan­den sie völ­lig leer vor, aller­dings von sehr ver­däch­ti­gen Düften durch­wa­bert. Was aber unbe­dingt erwähnt wer­den muß­te, ist die Tatsache, dass alle wei­ter oben im Gebäude "gefun­de­nen" Lehrer schon 2‑fach geimpft waren.
    https://​www​.welt​.de/​r​e​g​i​o​n​a​l​e​s​/​h​a​m​b​u​r​g​/​a​r​t​i​c​l​e​2​3​2​2​3​1​0​7​1​/​E​r​m​i​t​t​l​u​n​g​e​n​-​w​e​g​e​n​-​D​r​o​g​e​n​k​o​n​s​u​m​-​L​e​h​r​e​r​-​f​e​i​e​r​n​-​P​r​i​v​a​t​p​a​r​t​y​-​i​n​-​S​c​h​u​l​a​u​l​a​.​h​tml

  10. Solange man nicht dar­auf hin­weist, daß Corona nur eine ande­re Form des Klassenkampfes und der Unterdrückung ist und damit das Wesen einer kapi­ta­li­sti­schen Gesellschaftsordnung beschreibt, kann man vie­le gute Reden halten.

  11. BRAVO! Diese Rede soll­te unter allen Abiturienten im deutsch­spra­chi­gen Raum auf sozia­len Netzwerken die Runde machen, sie spricht doch allen aus tief­stem Herzen!!!
    Her-vor-ra-gend!!!!! 🙂

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