Müssen JournalistInnen lesen können? Oder gar verstehen, worüber sie schreiben? Wenn es darum geht, Panik zu verbreiten, offenbar nicht. Dem Schweizer Tages-Anzeiger geht es heute darum, harte Lockdowns zu propagieren. Er veröffentlicht dazu eine Grafik, zu der fälschlich angegeben wird:
»Die amerikanische Zeitung "New York Times" hat kürzlich 700 Epidemiologen gefragt, welche alltäglichen Aktivitäten sie für die riskantesten halten. Am häufigsten nannten sie das Essen im Innern eines Restaurants. Danach folgten die Teilnahme an Hochzeiten und Beerdigungen und Besuche von Sportveranstaltungen, Konzerten oder Theatervorstellungen.«
Was hat die "New York Times" wirklich berichtet? Ihr Artikel ist überschrieben mit "Wie 700 Epidemiologen heute leben und wie es ihrer Meinung nach weitergeht". Die Zeitung hat in einer Umfrage feststellen wollen, wie sich die WissenschaftlerInnen selbst verhalten, sonst nichts.
»Epidemiologen sind eine sehr vorsichtige Gruppe. Die meisten sagten, dass es selbst mit Impfstoffen wahrscheinlich ein Jahr oder länger dauern würde, bis viele Aktivitäten sicher wieder aufgenommen werden könnten, und dass einige Teile ihres Lebens vielleicht nie wieder so werden, wie sie waren…
Epidemiologen machen sich Sorgen über viele Unbekannte, darunter die Frage, wie lange die Immunität anhält, wie das Virus mutieren kann, die Herausforderungen bei der Verteilung des Impfstoffs und die mögliche Abneigung einiger Gruppen gegen den Impfstoff…
Von den 23 Aktivitäten des täglichen Lebens, nach denen in der Umfrage gefragt wurde, gab es nur drei, die die Mehrheit der Befragten im letzten Monat durchgeführt hatte: sich mit Freunden im Freien treffen, ohne Vorsichtsmaßnahmen Post einwerfen und Besorgungen machen, wie z.B. zum Lebensmittelgeschäft oder in die Apotheke gehen.«
Die hier angegebenen Prozentzahlen haben wenig zu tun mit denen im Tages-Anzeiger.
»Etwa 8.000 Epidemiologen wurden eingeladen, an unserer Umfrage teilzunehmen, die per E‑Mail an die Mitglieder der Gesellschaft für Epidemiologische Forschung und an einzelne Wissenschaftler verteilt wurde und die vom 18. November bis 2. Dezember durchgeführt wurde. Von den 700 Teilnehmern arbeiten etwa drei Viertel im akademischen Bereich; ein ähnlicher Anteil führt Arbeiten durch, die zumindest teilweise mit dem Coronavirus in Zusammenhang stehen.
Entsprechend ihrem informellen Berufsmotto betonten viele von ihnen, dass sich ihre Antworten je nach den Umständen ändern könnten. Der Satz "es kommt darauf an" tauchte 45 Mal in ihren Antworten auf.«
Nö, Herr Aschmoneit, da hätten Sie den NYT-Artikel fertig lesen sollen. Da steht:
When asked about the safest and riskiest activities on the list, most epidemiologists agreed on these general principles: They are less worried about outdoor activities and about touching surfaces, and more worried about indoor activities and those with large groups. But even the epidemiologists didn’t all agree on their assessment of risk.
“Indoor venues with lots of people is the riskiest situation,” said Leland Ackerson, associate professer of public health at the University of Massachusetts Lowell. “Outdoors with few people, social distancing and precautions is the least risky.” He said that during the last month, he had hiked with friends, opened mail without precautions and run errands.
The three least risky and most risky activities, according to epidemiologists
LEAST RISKY
1. Bringing in mail without precautions (75%)
2. Hiking or gathering outdoors with friends (72%)
3. Going on errands, such as to the grocery store or pharmacy, in person (46%)
MOST RISKY
1. Eating indoors at a restaurant (44%)
2. Attending a wedding or a funeral (43%)
3. Attending a sporting event, concert or play (35%)
Der Tagesanzeiger hat lediglich den Kontext verschwiegen und die Daten hübsch aufbereitet, aber ceteris paribus "stimmt" es.
@some1: Das ist eine zulässige Lesart.
In diesem Zusammenhang überhaupt den Begriff "Gefahr" in den Mund zu nehmen, lässt tief blicken, zumal weder im Krankenhaus in unmittelbarer Nähe positiv Getesteter noch in der Londoner Metro infektionsfähige Viren auf Oberflächen nachgewiesen werden konnten.
Da beginnt man zu verstehen, wie Max Weber über die Journalisten schreiben konnte, sie gehörten einer Art "Paria-Kaste" an.