Ermächtigungen für Spahn: "JuristInnen dreht sich der Magen um"

Telepolis ver­öf­fent­licht heu­te ein Interview mit dem Juristen Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes und von 2003 bis 2009 Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit. Darin heißt es:

»Franz Knieps: Das Grundgesetz kennt in der Tat kei­ne Ausnahme­verfassung für den Fall einer Pandemie. Das ist kein Zufall, son­dern das bewuss­te Ergebnis der Erfahrungen, die die Mütter und Väter unse­rer Verfassung mit der Weimarer Reichsverfassung und deren kon­kre­te Handhabung durch den Anti-Demokraten Hindenburg als Steigbügelhalter von Hitler und den Nationalsozialisten gemacht hat­ten. Aber das Grundgesetz ist nicht blind gegen­über Ziel- und Interessen­konflikten der moder­nen Welt. Grundrechte gel­ten nicht abso­lut – mit Ausnahme der Menschenwürde. Sie kön­nen durch Gesetze ein­ge­schränkt wer­den, dür­fen aber – wie es das Bundesverfassungs­gericht aus­drückt – in ihrem Wesensgehalt nicht ange­ta­stet wer­den. Schließlich müs­sen kon­kur­rie­ren­de Grundrechte und dar­aus abge­lei­te­te Schutzpflichten des Staates gegen­ein­an­der abge­wo­gen werden.

Was aber ver­än­dern die genann­ten Pandemie-Gesetze an der Gewaltenteilung?

Franz Knieps: Die in der Frühzeit der Pandemie ver­ab­schie­de­ten Gesetze "zum Schutz der Bevölkerung" ver­än­dern die Statik der Gewaltenteilung und des Systems der Checks and Balances in gleich zwei Formen. Zum einen hat sich das Parlament tem­po­rär sei­ner zen­tra­len Funktionen beraubt als Entscheider aller wesent­li­chen Rechtsfragen – Juristen spre­chen hier vom Vorbehalt des Gesetzes – und als Kontrollorgan der Regierung, die mit nahe­zu unbe­schränk­ten Verordnungs­ermächtigungen aus­ge­stat­tet wor­den ist. Zum ande­ren wer­den dem Bund Kompetenzen über­tra­gen oder schlicht über­las­sen, die nach der Staatsorganisation in unse­rer Verfassung den Ländern zustehen…

Franz Knieps: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird ermäch­tigt, ohne Mitwirkung des Parlaments von Gesetzen, Verordnungen oder Regulierungen der Selbstverwaltung abzu­wei­chen. Inhaltlich ist die­se Ermächtigung kaum begrenzt. Diese Ermächtigung reicht soweit, dass das BMG selbst von dem ermäch­ti­gen­den Gesetz abwei­chen kann. Eine Regelung, bei der sich Juristinnen und Juristen der Magen umdreht.

Das läuft Artikel 80 des Grundgesetzes zuwi­der, nach dem "Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteil­ten Ermächtigung im Gesetze bestimmt wer­den" müssen…

Findet Ihrer Meinung nach eine hin­rei­chen­de und kon­ti­nu­ier­li­che Überprüfung der Maßnahmen mit dem Ziel der Rücknahme statt?

Franz Knieps: Es sind pri­mär die Gerichte, die Überprüfungen erzwin­gen. Das Parlament ist – zumin­dest in sei­ner Mehrheit – eher pas­siv. Von kon­ti­nu­ier­li­cher Überprüfung wür­de ich hier nicht spre­chen, zumal sich vie­le Politiker in der Rolle des Apokalyptikers oder wenig­stens des Krisenmanagers gefal­len. Die mei­sten Medien tun das ihre dazu.

Wie weit wir­ken die genann­ten Gesetze in die Zukunft, wenn jetzt schon die Zwangsanwendung von Tracking- und Tracing-Apps dis­ku­tiert wird?

Franz Knieps: Die Verschärfungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes und die unbe­stimm­ten Verordnungsermächtigungen gel­ten auf eine unbe­stimm­te Zeit wei­ter, solan­ge der Deutsche Bundestag die oben ange­ben­de Feststellung nicht auf­hebt. Folglich ist kein Ende abseh­bar, weder zeit­lich noch inhalt­lich. Die Phantasie der Krisenmanager scheint gren­zen­los zu sein. Ob das auch für die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung gilt, darf bezwei­felt werden…

Sie zitie­ren den Rechtsphilosophen Carl Schmitt, der ein­mal sag­te: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand ent­schei­det." Was sagt uns das über die gegen­wär­ti­ge Pandemie-Demokratie?

Franz Knieps: Damit kein Zweifel ent­steht, ich ver­ach­te Carl Schmitt und sei­nen Ausspruch. Ich kann nicht ver­ste­hen, wie man von einem sol­chen Handlanger des Totalitarismus fas­zi­niert sein kann. Ich habe mit Genugtuung fest­ge­stellt, dass die deut­sche Rechtswissenschaft sich fast aus­nahms­los in der Pandemie dem Rekurs auf Schmitt ver­wei­gert hat. Im Gegenteil: Die Berliner Verfassungsrechtlerin Andrea Böhm hat in ihrer kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten Habilitationsschrift klug und inspi­rie­rend dar­ge­legt, dass wir kei­nen Ausnahmezustand brau­chen, um Krisen wie die Pandemie zu bewäl­ti­gen. Auch wenn es man­chem Konservativen in der Seele weh­tut, Carl Schmitt ist tot.«

(Hervorhebung nicht im Original.)

Eine Antwort auf „Ermächtigungen für Spahn: "JuristInnen dreht sich der Magen um"“

  1. Deutschland, die Tracing-App, der Immunitätsausweis und Alena Buyx 

    Alena Buyx ist Professorin für Medizinethik und der­zei­ti­ge Vorsitzende für den Deutschen Ethikrat. 

    Der Dimension der elek­tro­ni­schen Überachung – beschränk­ter Zugang zu man­chen Gebäuden, beschränk­te indi­vi­du­el­le Reisefreiheit – inner­halb der wer­den­den Hygienediktatur gibt Alena Buyx über Deutschlands Grenzen hin­aus­den­kend offen­bar grü­nes Licht – sie­he diver­se YouTube Kurzfilme zu Immunitätsausweis . 

    "In our eighth “AI&I” vTalk spe­cial guest Alena Buyx and host Prof. Dr. Dr. Alexander Görlach tal­ked about medi­cal ethics – espe­ci­al­ly in times of the COVID-19 pan­de­mic!", "ethi­cal chal­lenges that are faced in terms of the COVID-App use, and the que­sti­on of whe­ther an immu­ni­ty pass­port could be an opti­on to deal with the cri­sis" ( AI & I vTalk with Alena Buyx • Live über­tra­gen am 30.09.2020 • VodafoneInstitute ) 

    Man lese zwi­schen den Zeilen, denn von "kla­re Kante" kann m. E. kei­ne Rede sein. WeLT: "Der Deutsche Ethikrat lehnt eine Einführung von Immunitätsausweise für das Coronavirus der­zeit klar ab." – dem ist nicht so, zumal uns das "der­zeit" irri­tie­ren soll­te. ( KLARE KANTE: Ethikrat lehnt Spahns Corona-Immunitätsausweis ein­deu­tig ab • 22.09.2020 • WELT Nachrichtensender ) 

    YouTube • 29.10.2020 • ZDF • Prof. Dr. Alena Buyx über Einschränkungen des Datenschutzes – Deutscher Ethikrat

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