FAZ: Nichts wissen, aber Panik schüren

"Grenzen des Gesundheitsschutzes" lau­tet die Überschrift eines Artikels vom 12.10. auf faz​.net, in dem geunkt wird:

»Die Pandemie stellt uns vor schwie­ri­ge Fragen der Moral… Das medi­zi­ni­sche Personal kon­fron­tier­ten die Engpässe mit einem mora­li­schen Dilemma: Wem ein Intensivbett gewäh­ren, wenn es davon zu weni­ge gibt?

Wie man es dreht und wen­det: Bei zu knap­pen Mitteln wird man nicht dem mora­li­schen Recht eines jeden Schwerkranken auf medi­zi­ni­sche Hilfe gerecht wer­den kön­nen. Entscheidungen nach den Erfolgsaussichten der jewei­li­gen Behandlung sind ein Notbehelf, aber kei­ne mora­lisch glat­te Lösung, die einen ruhig schla­fen lie­ße. In Deutschland ist das eher ein theo­re­ti­sches Problem. Aktuell soll nur unge­fähr ein Prozent der Intensivbetten für Covid-19-Patienten belegt sein. Aber der all­ge­mei­ne Gesundheitsschutz kann schnell wie­der an sei­ne Grenzen sto­ßen. Das lässt Maßnahmen mora­lisch gebo­ten sein, es nicht (wie­der) so weit kom­men zu las­sen.«

Wie man es dreht und wen­det: Das ist falsch. Wir sol­len es "nicht (wie­der) so weit kom­men las­sen", uns fra­gen zu müs­sen, wer ein Intensivbett bekommt?

Das mag auf Frankreich, England und Italien zutref­fen, auf Länder also, die noch beses­se­ner als Deutschland das von der FAZ stets pro­pa­gier­te Ziel ver­folgt haben, "Kosten im Gesundheitswesen" zu sen­ken und Krankenhäuser zu pri­va­ti­sie­ren. Das ist hier­zu­lan­de nicht in dem Maße gelun­gen, auch weil es rege PatientInnen- und Bürgerbewegungen und auf­merk­sa­me Gewerkschaften gab.

Deshalb stan­den wir selbst im Frühjahr nicht vor der genann­ten Frage. Sehr wohl aber vor dem Problem, daß auch hier der Sparkurs der letz­ten Regierungen egal in wel­cher Farbzusammensetzung dazu geführt hat­te, daß schlecht bezahl­te und mise­ra­bel mit Schutzausrüstung ver­se­he­ne Beschäftigte auf den Stationen Überstunden ohne Ende lei­sten muß­ten und für ihre Verantwortungsbereitschaft mit scha­lem Klatschen von Balkons belohnt wur­den. Und auch heu­te wie­der – gro­tes­ker­wei­se mit Verweis auf Corona – wird den Arbeitenden im Öffentlichen Dienst eine lee­re Staatskasse vorgehalten.

Der FAZ-Autor macht sich nicht die Mühe zu über­prü­fen, was dran ist an sei­ner Vermutung "Aktuell soll nur unge­fähr ein Prozent der Intensivbetten für Covid-19-Patienten belegt sein". Dabei wür­de ein Blick auf die Daten des DIVI-Intensivregisters rei­chen. Mit Stand vom 12.10. ist dort zu erfah­ren, daß es in der BRD ca. 30.000 Intensivbetten gibt, etwa 12.000 kön­nen in 7 Tagen als Notfallreserve bereit­ge­stellt wer­den. Davon sind 590 mit COVID-19-PatientInnen belegt. Das sind 2 Prozent, also das Doppelte des von ihm Vermuteten. (Man könn­te die Berechnung ver­fei­nern und die Beatmungskapazitäten aus­wei­sen.) Doch selbst die­se 2 Prozent füh­ren sei­ne fol­gen­den Worte ad absurdum:

»Die bis­lang getrof­fe­nen Vorkehrungen sind jedem, ob sie einem pas­sen oder nicht, geläu­fig: Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch Quarantänepflicht nach Rückkehr aus einem soge­nann­ten Risikogebiet, Schulschließungen, Maskenpflicht im öffent­li­chen Raum, Eingriffe in die Berufsausübung, Betriebsschließungen oder das Herunterdimmen von Konzerten, Demonstrationen oder Sportveranstaltungen. Alle die­se Einschränkungen des Alltagslebens sol­len hel­fen, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu ver­hin­dern und mora­li­sche Dilemma-Situationen zu ver­mei­den.«

Das "Herunterdimmen von Demonstrationen" etc. ist ein äußerst schrä­ges Bild, beschreibt aber neben den ande­ren Beispielen, was alles der Autor für erfor­der­lich hält, um eine von ihm ledig­lich kon­stru­ier­te "mora­li­sche Dilemma-Situation" zu vermeiden.

In der Folge führt er einen Kampf gegen ein Argument, das ver­mut­lich in Wirtschaftskreisen dis­ku­tiert wird, aber nir­gends sonst zu hören ist: Der Lockdown füh­re zu "Corona-Wirtschaftstoten“, deren Zahl sich ergebe

»… aus der Summe der ver­lo­re­nen Lebensjahre von Mitgliedern einer bestimm­ten Wohnbevölkerung im Vergleich zur durch­schnitt­li­chen Lebenserwartung.

Dieses Argument hat aller­dings einen Haken. Es geht ein gewich­ti­ger Unterschied ver­lo­ren: Der Verlust eines Menschenlebens ist nicht das Gleiche wie die Einbuße der Summe von Lebensjahren, die eine durch­schnitt­li­che Lebenszeit angibt. Wir beer­di­gen und betrau­ern Menschen mit Namen und Gesicht und nicht agg­re­gier­te, zah­len­mä­ßi­ge Größen. Im Kern geht es um den Widerstreit zwi­schen dem reel­len Recht erwach­se­ner Menschen, sich durch ihre Arbeit über Wasser hal­ten zu kön­nen, und der Pflicht, ande­re dabei nicht in unzu­mut­ba­rer Weise zu beein­träch­ti­gen oder in ihrer Gesundheit zu schädigen.«

Das klingt men­schen­freund­lich. Der Verfasser ist schließ­lich "Professor für Philo­sophie an der ETH Zürich und Vorsitzender der dor­ti­gen Ethik­kommission". Hier ist nicht der Ort über das Menschenbild eines Ethikers zu spre­chen, der Arbeit als ein Sich-Über-Wasser-Halten begreift und auch nicht davon, wes­sen Aufgabe es wohl sei sicher­zu­stel­len, daß, wer arbei­tet, "dabei" nicht ande­re schä­digt. Vielmehr soll ange­fügt wer­den, was er damit meint:

»Im Einzelnen bedeu­tet dies, die Mitglieder von… Risikogruppen auf­zu­for­dern, zu Hause zu blei­ben sowie ihre Freunde und Verwandte bevor­zugt, wie­der­keh­rend, schnell und kosten­los auf Infektionen mit Sars-CoV‑2 zu testen und sie gege­be­nen­falls mit Schutzkleidung aus­zu­stat­ten. Das soll ihnen einen regel­mä­ßi­gen, inten­si­ve­ren, see­lisch stär­ken­den Kontakt ermöglichen…

Wird so der Konflikt ein­fach dadurch gelöst, dass den Mitgliedern der Risikogruppen die Pflicht zur Selbstisolation auf­er­legt wird und alle ande­ren ihr gewohn­tes Leben wie­der­auf­neh­men kön­nen? – Nein. Denn erstens darf die­se Pflicht nicht mit einem recht­li­chen Zwang ver­se­hen wer­den. Zweitens bedeu­tet die Konzentration auf die Risikogruppen auch, dass ihre Mitglieder einen Vorrang genie­ßen bei dem Einsatz eines knap­pen Impfstoffes – neben den beruf­lich beson­ders expo­nier­ten Personen wie Ärzten, Kranken- und Altenpflegern, Lehrerinnen, Busfahrern, Zugführerinnen oder Verkäufern.«

Lassen wir die Korinthenkackerei um die Frage, wel­chen Berufen der Autor eine weib­li­che Form zubil­ligt. Verweisen wir lie­ber dar­auf, daß Jens Spahn erwar­tet, daß wir "viel zu viel Impfstoff haben" wer­den (s. "Wenn alle Pferde ins Ziel kom­men, wer­den wir viel zu viel Impfstoff haben"). Der Impfstoff wird also nicht knapp wer­den. Darüber hin­aus ist es so, daß "auch in Gruppen, die als Risikogruppen… gel­ten", die Impfbereitschaft sinkt (s. dazu die aktu­el­le Studie u.a. des RKI.) Auch des­halb ist die­se Schlußfolgerung kei­nes­wegs schlüssig:

»Drittens müs­sen die weni­ger gefähr­de­ten Erwachsenen eben­falls Sorge dafür tra­gen, dass das Gesundheitswesen nicht über­la­stet wird: also die Einhaltung der übli­chen Abstands- und Hygieneregeln und das Tragen von Nase-Mund-Masken, der Verzicht auf Spaßreisen in Risikogebiete, selbst bezahl­te Tests auf eine Infektion nach der Rückkehr aus dem Urlaub, Gebrauch der Nachverfolgungs-App, um nur eini­ge Beispiele zu nen­nen.«

In die­sem Kontext klingt die fol­gen­de Bemerkung bes­ser, als sie gemeint sein wird:

»Bürger [müs­sen] selbst die Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte wenig­stens ver­mit­telst ihrer par­la­men­ta­ri­schen Repräsentanten akzep­tie­ren. Das ver­langt neben einem par­la­men­ta­ri­schen Gesetzesvorbehalt für das Regierungshandeln zum Beispiel eine sehr knap­pe Verfallsfrist für Gesetze mit weit­rei­chen­den Ermächtigungen der Regierungen wie das deut­sche Infektionsschutzgesetz. Überdies dür­fen die Feststellung von Notlagen mit ihren schwe­ren Grundrechtseinschränkungen und eben­so die Rücknahme sol­cher Feststellungen nicht den Regierungen über­las­sen werden…

Heißt das: "Demos sind auch in der Pandemie berech­tigt, Club‑, Stadion- und Gottesdienstbesuche aber eher nicht?" – Ja, das heißt es…

Fraglich ist, ob man sei­ne Freiheitsrechte auch in der Pandemie ver­ant­wort­lich so gebrau­chen darf, dass als unbe­ab­sich­tig­te Nebenfolge die Gesundheit ande­rer gefähr­det oder beein­träch­tigt wird. Und die Antwort ist: Ja, das ist mora­lisch zuläs­sig. Ein Nein wür­de einen strik­ten all­ge­mei­nen Gesundheitsschutz bedeu­ten. Danach müss­te jedes Handeln unter­las­sen wer­den, das erkenn­bar ein Gesundheitsrisiko für ande­re birgt. Das aber wür­de die Zusammengehörigkeit von Gesundheit und Freiheit auflösen.«

Was der Autor hier abstrakt bejaht, hat er zuvor aus­führ­lich abgelehnt.

Erneut hat eine sub­ver­si­ve Bildredaktion zugeschlagen:

Wie sehr dür­fen staat­li­che Einschränkungen von Freiheitsrechten im Dienst eines all­ge­mei­nen Gesundheitsschutzes ste­hen? © PICTURE-ALLIANCE

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