Geisel im Streitgespräch mit "Corona-SkeptikerInnen"

zeit​.de ver­öf­fent­licht heu­te ein Streitgespräch mit Viviane Fischer, Anwältin und Mitglied im "Corona-Ausschuss", Nils Roth, Barbetreiber in Berlin, David Claudio Siber, der als Grüner auf der Demonstration vom 29.8. sprach, und Andreas Geisel, Innensenator von Berlin. Dort ist zu lesen:

»Viviane Fischer: …Inzwischen bin ich Mitglied im Corona-Ausschuss, einem Zusammenschluss von vier Anwälten, der mit­hil­fe von Experten die Situation von allen Seiten beleuch­tet: Werden von Herrn Drosten abwei­chen­de wis­sen­schaft­li­che Meinungen genug gehört? Werden die mas­si­ven Kollateralschäden des Lockdowns genug bedacht? Politiker haben unse­re Einladung bis­lang aus­nahms­los ausgeschlagen…

Geisel: …Also, zur Demonstration: Die Versammlungsbehörde hat­te sorg­fäl­tig das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit mit dem auf kör­per­li­che Unversehrtheit abge­wo­gen. Ihr Verbot hat­te sie dann mit der zu erwar­ten­den Missachtung der Hygieneregeln begrün­det. Denn die­sel­ben Personen, die bereits bei einer Demonstration am 1. August die Auflagen igno­riert hat­ten, hat­ten nun wie­der zur Demo auf­ge­ru­fen, und es bestand klar die Absicht, die Abstandsregeln zu ignorieren.

Fischer: Das ist eine Unterstellung.

Geisel: Am 29. August ist genau das ein­ge­tre­ten: Die Leute stan­den viel zu dicht beisammen.

Fischer: Das hat die Polizei selbst her­bei­ge­führt, weil sie die Straßen so abge­sperrt hat, dass die Leute sich nicht ver­tei­len konnten.

Geisel: Nein, es gab genug Platz. Durchsagen, sich zu ver­tei­len und Abstand zu hal­ten, wur­den ignoriert.

Siber: Es gibt wis­sen­schaft­lich kei­nen Beleg für den Anstieg von Viruserkrankungen nach Versammlungen oder Demonstrationen. Ich habe zehn Studien hier, die zei­gen: Der Außenbereich ist eine rela­tiv siche­re Zone.

Fischer: Sagt sogar Professor Drosten.

Geisel: Anders als Sie bin ich nicht mit zehn Studien zu die­ser Frage bewaff­net. Ich bin Mitglied des Berliner Senats. Unser Ziel ist es, die Menschen best­mög­lich vor einer Pandemie zu schüt­zen, die in ande­ren Ländern mit vol­ler Härte zuge­schla­gen hat. Bei uns sind die Zahlen nur bes­ser, weil wir früh ein­ge­grif­fen haben …

Fischer: Die Statistik spricht eine ande­re Sprache …

Geisel: … das kann sich aber schnell ändern – schau­en Sie sich die Entwicklung in Madrid an: Dort sind 40 Prozent der Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt.

Siber: Wie vie­le Intensivbetten gibt es in Madrid? Das muss man doch in Relation set­zen, sonst kann man dar­aus kei­ne Erkenntnis ziehen.

Geisel: Ich weiß nur: Die Zahlen haben sich in Madrid schnell wie­der zum Negativen bewegt – so etwas wol­len wir verhindern.

ZEIT: Der Punkt ist aber, dass Sie mit Blick auf das Verbot der Großdemo nicht ein­fach auf das Infektionsgeschehen ver­wie­sen haben, son­dern auf die Gesinnung der Demonstranten.

Geisel: Nein, so habe ich nicht das Verbot begrün­det – son­dern nur mei­ne poli­ti­sche Haltung. Und die darf ich haben! Ich bin Politiker, ich bin Sozialdemokrat, ich bin nicht neu­tral. Und dass am 29. August Tausende Rechtsextreme auf der Straße waren, dass da Reichsbürger mar­schier­ten, dass Leute offen das Grundgesetz ange­grif­fen haben: Das hat ja alles statt­ge­fun­den. Und das lässt mich nicht kalt.

Roth: Was ich an Rechtsradikalen gese­hen habe, war bei null. Das Einzige waren weit hin­ter mir zwei Fahnen, die ich nicht zuord­nen konn­te. Erst als ich die Nachrichten geschaut habe, wur­de mir klar: Die gehör­ten zu Reichsbürgern. Da muss­te ich erst mal goo­geln: Die sind ja irre!..

Geisel: … und dann die Rechtsextremisten und Antisemiten dort …

Fischer: Wo sol­len die gewe­sen sein? Auf mei­nen Aufnahmen ist sogar eine Israelflagge zu sehen.«

Na ja, inzwi­schen ist schon doku­men­tiert, daß es recht vie­le schwarz-weiß-rote-Fahnen gab, offe­ne Rechtsextremisten und dut­zen­de AfD-Funktionäre anwe­send waren…

»Geisel: Herr Ballweg, der Anmelder der Demo, hat zum Beispiel kurz danach mit Martin Lejeune zusam­men­ge­ses­sen, kum­pel­haft, sich duzend.

Siber: Das ist mir nicht bekannt.

Geisel: Martin Lejeune ist ein poli­ti­scher Aktivist und Publizist aus der anti­se­mi­ti­schen Ecke.

Roth: Von dem habe ich noch nie gehört. Ich war auf der Demo nicht als Rechter oder als Linker – son­dern als Mensch. Und in die­sem Land wird der Mensch gera­de ver­arscht. Als die Corona-Hilfen ange­prie­sen wur­den, dach­ten Unternehmer wie ich: geil! Endlich tut der Staat mal nicht nur etwas für die Großen. Aber die Hilfen sind an uns vor­bei­ge­gan­gen.«

Geisel ver­sucht, den Antifaschisten zu geben. Ausgerechnet er, der bereits zwei "Rudolf-Heß-Gedenkmärsche" der Ultra-Nazi-Szene in Berlin mit mas­si­ven Polizeiaufgeboten vor Protesten schüt­zen und GegendemonstrantInnen juri­stisch ver­fol­gen ließ (s. Andere Zeiten, ande­re Seiten). Doch die vor­ge­tra­ge­ne Naivität der GesprächspartnerInnen zur Einflußnahme von Rechtsradikalen ist eben­so wenig glaub­wür­dig (s. Nazis tra­gen kei­ne Springerstiefel mehrBallweg outet sichBallwegs Distanzierung vom "lie­ben Nikolai Nerling").

»ZEIT: Nach der Corona-Demonstration hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gesagt: "Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgert oder ihre Notwendigkeit anzwei­felt, kann und darf dage­gen demon­strie­ren." Womöglich mein­te er damit genau Menschen wie Sie, Herr Roth. Steinmeier sag­te wei­ter: "Mein Verständnis endet aber dort, wo sich Demonstranten vor den Karren von Demokratiefeinden und poli­ti­schen Hetzern span­nen las­sen." Fühlen Sie sich angesprochen?

Roth: Ich habe die­sen Sturm auf den Reichstag im Fernsehen gese­hen und fand das ent­setz­lich. Aber wenn es dann heißt, alle Demonstranten sei­en Rechtsradikale gewe­sen: Das ist falsch. Um mich her­um waren nur nor­ma­le Leute.

ZEIT: Laut Verfassungsschutz waren da bis zu 3000 Rechtsextreme.

Geisel: 3000 ist eine vor­läu­fi­ge Schätzung. Insgesamt waren auf der Demo 38.000 Menschen.

Roth: Quatsch, das waren viel mehr! Ich hat­te vor ein paar Jahren eine Bühne beim Event "Planet Pro" auf der Straße des 17. Juni. Da waren 30.000 Leute. Ich gehe auch zum Fußball, ich ken­ne sol­che Dimensionen. Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben.

Geisel: Die Polizei macht dafür Übersichtsaufnahmen. Mit deren Hilfe lässt sich schät­zen, auf wie viel Platz die Demonstration statt­fin­det. Dann kann man hoch­rech­nen, wie vie­le Menschen da waren.

Fischer: Ich bin die gan­ze Strecke abge­lau­fen. Alles war knall­voll. Ich schät­ze, das war eine hal­be Million Menschen.«

Warum las­sen sich Roth und Fischer auf das alber­ne Zahlenspiel ein?? Und dann mit solch einer Zahl?

»Roth: Wenn Sie damit gerech­net haben, dass so vie­le Extremisten zusam­men­kom­men, Herr Geisel, war­um stan­den nur drei Polizisten vor dem Reichstag?

Geisel: Das waren nicht nur drei. 280 Beamte sind sofort zu Hilfe gekommen.

Siber: Sie sind ver­ant­wort­lich für beschä­men­de Bilder – mit denen dann wie­der­um Vorurteile gegen Menschen wie uns geschürt wurden.

Geisel: Ja, die Bilder sind beschä­mend. Der Bundestag war aber nie in Gefahr, über­rannt zu wer­den. Darüber hin­aus: Wäre es nach mir gegan­gen, hät­te es über­haupt kei­ne Versammlung gege­ben, wegen der Verstöße gegen die Hygienebestimmungen. Ich akzep­tie­re, dass Sie für sich in Anspruch neh­men, die­se Bestimmungen zu kri­ti­sie­ren. Aber unse­re Demokratie hat Regeln, die für alle gel­ten. Teilnehmer der Demonstration am Vormittag haben Regeln bewusst miss­ach­tet und damit …

Siber: (ruft) Können Sie das bewei­sen? Das stimmt doch nicht.

Geisel: Doch. Und damit …

Fischer: Wäre die epi­de­mi­sche Lage wirk­lich so schlimm, wie Sie tun, müss­ten wir gar nicht dis­ku­tie­ren, ob es Masken braucht oder Quarantänen, denn dann wür­den alle von sich aus zu Hause blei­ben. Aus Angst.

Geisel: … und damit wur­de die Gesundheit ande­rer Menschen gefähr­det. Diese Kritik müs­sen Sie sich anhören!

Fischer: Tun Sie doch bit­te nicht so, als gäbe es nur Alternativen wie: Entweder wir öff­nen eine Karaoke-Bar, oder wir ret­ten der Oma das Leben. Wer bewer­ten will, wie gefähr­lich das Virus ist, muss sich Übertragungswege, Sterberaten oder freie Intensivbetten genau anschau­en. Viele Faktoren! Und wir müs­sen noch viel mehr prü­fen, wel­che neu­en Risiken die Corona-Maßnahmen geschaf­fen haben.

Geisel: So weit stim­me ich Ihnen sogar zu. Glauben Sie mir: Keine die­ser Einschränkungen beschlie­ßen wir leicht­fer­tig. Wir alle kämp­fen mit Zweifeln. Wir wägen ab, jeden Tag. Wir bewer­ten am Ende nur das Risiko anders als Sie…

Fischer: Ich wün­sche mir, dass Sie Ihre inter­nen Abwägungen nach außen tra­gen: Wieso haben wir die größ­ten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik, wenn die Viruslage offen­sicht­lich nicht so dra­ma­tisch ist?

Geisel: Wollen Sie lie­ber war­ten, bis die Zahl der Erkrankten expo­nen­ti­ell wächst und die Intensivstationen voll sind, ehe Sie fin­den: Jetzt kann ich Maßnahmen rechtfertigen?

Siber: Sie schrän­ken also Grundrechte prä­ven­tiv ein?

Geisel: Den Artikel 8 Grundgesetz, die Versammlungsfreiheit, haben wir Anfang Mai wie­der voll­stän­dig in Kraft gesetzt. Das war eine zeit­lich begrenz­te Einschränkung. Genauso sind zum Beispiel Gottesdienste in Berlin längst wie­der erlaubt.

Fischer: Die Frage darf doch nicht lau­ten, wel­che Grundrechte wie­der in Kraft gesetzt wur­den, son­dern umge­kehrt: Sie, Herr Geisel, sind als regie­ren­der Politiker in der Beweispflicht, war­um ande­re Grundrechte immer noch nicht wie­der in Kraft gesetzt sind und inwie­fern das wirk­lich geeig­net, erfor­der­lich und ver­hält­nis­mä­ßig ist. Den Beweis erbrin­gen Sie nicht…

ZEIT: Sie, Herr Geisel, sind in der DDR auf­ge­wach­sen, wo die Demonstrationsfreiheit 1989 erkämpft wer­den muss­te. Müssten Sie nicht gera­de des­halb beson­ders sen­si­bel gegen­über Einschränkungen die­ses Grundrechts sein?

Geisel: Das bin ich. Aber anders als in der DDR leben wir heu­te in einer frei­en Gesellschaft. Wenn Sie sehen wol­len, wo Regime tat­säch­lich Demonstrationen unter­drücken, schau­en Sie mal nach Belarus…

Geisel: Noch mal: Laut Verfassungsschutz hat­ten sich unter sämt­li­che Kundgebungen an die­sem Tag Rechtsextremisten und Reichsbürger gemischt.

ZEIT: Hätte es so gese­hen für die drei Menschen, die mit Ihnen hier am Tisch sit­zen, am 29. August über­haupt eine Möglichkeit gege­ben, ordent­lich für ihr Anliegen in Berlin zu demonstrieren?

Geisel: An die­ser Stelle war das in der Tat schwierig.

Fischer: Soll das hei­ßen, wenn sich die fal­schen Leute in den Zug mischen, habe ich mein Versammlungsrecht ver­wirkt? Was machen wir denn, wenn etwa die Mafia syste­ma­tisch in Demos ein­sickert? War’s das dann mit der Demonstrationsfreiheit?

Geisel: Man kann sich von den fal­schen Leuten aber deut­lich distan­zie­ren. Das ist nicht gesche­hen. Sehen Sie es doch mal so: Dass die Verwaltungsgerichte gegen das Verbot ent­schie­den haben, zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert…

Siber: …So lan­ge, wie Sie heu­te mit uns spre­chen, Herr Geisel, hat sich in mei­ner Partei noch kei­ner Zeit für die Auseinandersetzung mit mir genom­men. Insofern muss ich sagen: Dass Sie sich mit uns hier an einen Tisch set­zen, ist ein Gewinn für die Demokratie.«

Eine PDF-Datei des Artikels gibt es hier zum Download.

(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)

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