Krankenhausleiter rechnet mit Drosten und RKI ab

Prof. Dr. Harald Matthes ist Leiter des Krankenhauses Havelhöhe, Berlin. An der Charité erforscht er seit 2017 die Möglichkeiten der Anthroposophischen Medizin. Ein Interview mit ihm von Ende September steht unter der Überschrift »"Die Corona-Maßnahmen sind in die­ser Pauschalität nicht mehr zu recht­fer­ti­gen"« Zu die­sem Zeitpunkt war das Anwachsen der Zahl der "Fälle" auf den Intensivbetten noch nicht zu erken­nen. Einige Beobachtungen schei­nen aber immer noch interessant:

»Wir haben zwei ver­schie­de­ne Phasen bei der Pandemie zu berück­sich­ti­gen. Das eine war die Erstphase in einem Land, wo wir über­all eine erhöh­te Krankheitsrate hat­ten. Dabei gab es schon bald die Diskussion dar­über, wie hoch eigent­lich die Letalität, die Sterblichkeit von Covid-19 ist. Wie vie­le Menschen ster­ben tat­säch­lich an die­ser Erkrankung? Diese Letalität war in den ein­zel­nen euro­päi­schen Ländern sehr unter­schied­lich, sie lag bei 1,2 bis maxi­mal 3,7 Prozent der Erkrankten, in Deutschland lag sie zwi­schen 0,3 und 0,8 Prozent – das ist eine Zahl, die leicht über der einer star­ken Influenza-Epidemie liegt. Aber sie liegt eben extrem weit unter den Todesraten, die ande­re Zoonosen – vom Tier auf den Menschen über­ge­sprun­ge­ne Viruserkrankungen – zei­gen wie zum Beispiel Ebola. Von vorn­her­ein hat­ten wir also rela­tiv nied­ri­ge Sterblichkeitszahlen, aber durch­aus ernst­haf­te Krankheitsverläufe…

Gegenwärtig liegt das Letalitätsrisiko bei nur noch 0,2 bis 0,3 Prozent, und wir wis­sen inzwi­schen, dass das gan­ze Geschehen nicht so sehr durch das Virus bestimmt ist, son­dern durch den jewei­li­gen Wirt, den das Virus befällt. Da ist es aus mei­ner Sicht völ­lig unver­ständ­lich, war­um Virologen, die ja das Virus unter­su­chen, immer noch die wesent­li­chen poli­ti­schen Maßgaben bestim­men, wäh­rend ja die kli­ni­sche Einschätzung das Entscheidende ist: Wie vie­le Menschen wer­den tat­säch­lich krank? Der erste Lockdown wur­de begrün­det mit der befürch­te­ten Überlastung des medi­zi­ni­schen Systems. Wir hat­ten dann in der soge­nann­ten ersten Welle eine maxi­ma­le Auslastung von 15 Prozent der Intensivkapazitäten in Deutschland, wobei es ein­zel­ne Kreise mit etwas höhe­ren Auslastungen gab…

Das Robert Koch Institut spricht wei­ter­hin von einer ern­sten Lage, die Corona-Einschränkungen sind wei­ter in Kraft?

Auch Herr Drosten muss­te inzwi­schen fast die Hälfte sei­ner Aussagen revi­die­ren, er muss­te ler­nen wie wir alle, wir muss­ten uns vom Infektionsgeschehen beleh­ren las­sen, muss­ten Erfahrungen machen. Medizin ist eine empi­ri­sche Wissenschaft. Gerade in der Intensivmedizin haben wir viel gelernt über die schwe­ren Verläufe. Die poli­ti­schen Maßnahmen waren aber nie risi­ko­stra­ti­fi­ziert und die Risiken wur­den bis heu­te nie dif­fe­ren­ziert. Im Gegenteil gibt es sogar Forderungen, alle Maßnahmen müss­ten bun­des­weit ein­heit­lich sein, was ja in Richtung Gleichmacherei geht. Und was ich am mei­sten kri­ti­sie­re, ist, dass die Maßnahmen für alle Bevölkerungsteile gleich gel­ten sol­len. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass Kinder unter neun Jahren so gut wie nie einen schwe­ren Verlauf haben und dass es auch kei­nen Beleg dafür gibt, dass sie ihre Lehrer anstecken – dann muss ich für die­se Altersgruppe nicht die glei­chen Maßnahmen ergrei­fen, als wenn ich im Altenheim einen Covid-19-Ausbruch ver­hin­dern will. Im Sozialen gibt es kein kate­go­ri­sches Richtig oder Falsch, son­dern hier gilt das Kriterium der Angemessenheit. Und das ist mitt­ler­wei­le verletzt.

Sie haben eben die Kinder ange­spro­chen als wenig gefähr­de­te Gruppe. Anfang September hat nun Johannes Hübner, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, gefor­dert, Kinder gegen Grippe imp­fen zu las­sen. Das sei – Zitat „in Zeiten der Corona-Pandemie auch eine gesell­schaft­li­che Verpflichtung zum Schutz ande­rer“. Die WHO emp­fiehlt die Impfung ab dem sech­sten Lebensmonat. Was hal­ten Sie von sol­chen Strategien?

Sie sind sicher nicht evi­denz­ba­siert im Sinne einer wis­sen­schaft­lich fun­dier­ten Medizin. Ich emp­feh­le dazu ein gutes Papier der Gesellschaft für evi­denz­ba­sier­te Medizin, die zu ande­ren Schlüssen kommt und auch die­se Empfehlung von Herrn Hübner kri­tisch hin­ter­fragt. Es gibt kei­ner­lei Hinweise dar­auf, dass, wenn wir gegen Influenza imp­fen, wir damit etwas Gutes tun gegen Corona. Die Empfehlung der Kinder-Grippe-Impfung ist patho­ge­ne­tisch gedacht, nach dem Motto: wenn ich eine Impfung gegen Grippe habe, soll ich sie auch ein­set­zen. Dass das Virus viel­leicht bereits atte­nu­ier­te, das heißt weni­ger schwe­re Verläufe indu­ziert und eine gerin­ge­re Letalität hat, und dass viel­leicht eine Herdenimmunität in der jun­gen Bevölkerung gege­be­nen­falls mög­lich wäre, ist wei­ter­hin gar kein poli­ti­sches oder öffent­li­ches Thema mehr. Die Gesellschaft für evi­denz­ba­sier­te Medizin zeigt sehr deut­lich in ihrer aktu­el­len Stellungnahme auf, dass die Pandemiebekämpfung sich an vie­len Stellen von wis­sen­schaft­li­chen Grundsätzen und damit evi­denz­ba­sier­ter Medizin ent­fernt hat und dass wir viel­fach in ein poli­ti­sie­ren­des Fahrwasser gekom­men sind.

Eine Anschlussfrage zum Thema Impfung: Die Regierung hat ja fest­ge­legt – und vie­le Menschen aus Wissenschaft und Medien sind der glei­chen Auffassung – dass die Pandemie erst zu Ende sein wird, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht. Wie beur­tei­len Sie das?

Diese Strategie hat kei­ner­lei wis­sen­schaft­li­chen Hintergrund, son­dern ist Ideologie. Auch die Influenza kann man ja nicht mit einer Impfung aus­rot­ten. Wir wis­sen der­zeit noch über­haupt nicht, ob es über­haupt eine effek­ti­ve Impfung gegen Covid-19 geben wird, wie dau­er­haft eine Impfung wäre und ob dann eine aus­rei­chen­de Antikörperbildung vor­liegt. Selbst wenn eine Impfung vor­han­den ist, wis­sen wir noch nicht, was sie lang­fri­stig lei­stet. Davon abge­se­hen wird der Verlauf einer Pandemie an kli­ni­schen Parametern gemes­sen, von daher ist die Aussage, dass sie erst mit einem Impfstoff enden kann, rein ideo­lo­gisch und ver­lässt sämt­li­che Argumentationen, die wir sonst bei Pandemien ansetzen.

Was wäre denn eine rea­li­sti­sche Alternative zu den jetzt ver­ord­ne­ten Beschränkungen – wie könn­te ein Ausstieg dar­aus rea­li­stisch aussehen?

Die jetzt ange­ord­ne­ten Maßnahmen sind sicher für fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sinn­voll und not­wen­dig, aber sie wer­den auf die gesam­te Bevölkerung aus­ge­dehnt, das ist nicht an den rea­len Risiken ori­en­tiert und das ist auch sozi­al nicht kom­pa­ti­bel. Und was umge­kehrt erschrecken muss: Wir haben ja bei­spiels­wei­se hier in Berlin eine Präventionsambulanz auf­ge­baut, wo ent­spre­chen­de vor­beu­gen­de Corona-Abstriche gemacht wur­den, da wur­den vor allem Lehrerinnen und Lehrer und auch Schüler*innen gete­stet, wohin­ge­gen Altenpfleger*innen, die aus den Ferien zurück­ka­men und wie­der in die Altenheime gin­gen, nicht zu der Testgruppe gehör­ten. Das ist unver­ant­wort­lich, wie hier popu­li­stisch nach media­ler Lautstärke vor­ge­gan­gen wur­de. Wir könn­ten uns statt­des­sen fra­gen, wie wir die etwa zehn Prozent der beson­ders gefähr­de­ten Bevölkerung effek­ti­ver schüt­zen kön­nen. Bei den alten Menschen soll­ten wir Abstandsregeln und Maskentragen bei Besuchen beach­ten, bei der über­wie­gen­den übri­gen Bevölkerung kom­men wir mit deut­lich locke­re­ren Maßnahmen aus, beson­ders in den Schulen. Und gera­de was die wirt­schaft­li­chen Folgen angeht, mei­ne ich, dass wir weit mehr Schaden anrich­ten, als infek­ti­ons­prä­ven­tiv nötig ist.«

Eine Antwort auf „Krankenhausleiter rechnet mit Drosten und RKI ab“

  1. Hier bie­tet sich fol­gen­des Szenario an: dem Trägerverein wird vom Finanzamt der Verlust der Gemeinnützigkeit ange­droht. Um dem zu ent­ge­hen, wird der Vorstand reagie­ren, denn er haf­tet bei nach­ge­wie­se­nen Fehlern u.U. per­sön­lich. Und schwups wird ein wei­te­re Kritiker in die Wüste geschickt. Söder hat ja den Weg vorgezeichnet.

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