Eins muß man Melanie Weiner von t‑online.de lassen. Seit Monaten zeigt sie, wie man olympiareif mit dem Florett der Ignoranz jedem noch so großkotzig auftretenden Fakt den Garaus machen kann. Wagemutig stürzt sie sich vom Sprungbrett des elfenbeinernen 10-Meter-Turms in das Bassin der Realität, um unberührt von dessen Wassern stolz aufzutauchen und mitzuteilen, beim nächsten Mal werde sie ganz bestimmt mindestens Bronze holen. So auch am 30.7.:
»Vierte Corona-Welle
Hier ist das Ansteckungsrisiko besonders hoch
Viele Experten sind sich einig: Die vierte Corona-Welle in Deutschland hat bereits begonnen. Auch der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, ist davon überzeugt.«
Man sieht den Trainer innerlich vor sich am Beckenrand stehen und liebevoll sein "Mädchen" betrachten.
»Demnach steigen seit rund drei Wochen sowohl die Inzidenzen als auch der Anteil der Hospitalisierungen wieder.«
Melanies Job ist es, "mit Virologen, Epidemiologen und Medizinern [zu sprechen], um über die neuesten Erkenntnisse der Forschung zu berichten". Ob ihr dabei Herr Wieler von dieser seiner Grafik erzählt hat?
Oder von der zur vierten Welle?
»Dem RKI zufolge bleibt oft unklar, wo sich die Menschen mit dem Coronavirus angesteckt haben. Nur die wenigsten Infizierten können aus dem Gedächtnis Informationen über den Ort ihrer Ansteckung liefern.
Studie ermittelt Corona-Ansteckungsorte im Herbst 2020
Wissenschaftler vom Institut Pasteur und der Université Sorbonne in Paris haben genau dieses Problem zum Anlass einer Studie genommen. Sie untersuchten, in welchen Situationen sich die Menschen im Herbst 2020 ansteckten, indem sie deren Verhalten mit dem von Nichtbetroffenen verglichen. 41.871 Personen mit Corona-Diagnose nahmen an dieser Fall-Kontroll-Studie teil. Ihnen wurde eine statistisch passend gewählte Kontrollgruppe gegenübergestellt.«
Seit mehr als einem Jahr weigert sich das RKI, derartige Studien durchzuführen. Zum Glück gibt es aber die aus Frankreich. Was hat Melanie davon verstanden? Zunächst, daß die Kontrollgruppe bei ihr keinerlei Rolle spielen sollte. Dann diese bahnbrechenden Erkenntnisse:
»Die Studie, die kürzlich im englischsprachigen Fachblatt "The Lancet" erschien, kam zu folgenden Ergebnissen:
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- Je größer die Personenanzahl in einem Haushalt, desto größer ist auch das Infektionsrisiko.…
- Auch private Treffen, der Besuch von Bars und Restaurants, Auslandsreisen sowie sportliche Aktivitäten in Innenräumen gingen mit einer höheren Ansteckungswahrscheinlichkeit einher.
- Sicherer erschienen hingegen Einkäufe in Geschäften, religiöse Zusammenkünfte, Kulturveranstaltungen und Transportmittel – mit Ausnahme von Fahrgemeinschaften.
- Arbeitslose infizierten sich nur rund halb so oft wie Menschen, die im Büro (vor Ort) arbeiteten. Vollzeit im Homeoffice zu sein, bot deutlichen Schutz und reduzierte die Wahrscheinlichkeit fast auf die von Arbeitslosen.
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Warum die Studienergebnisse mit Vorsicht zu betrachten sind
Allerdings war das öffentliche Leben in Frankreich zum Zeitpunkt der Befragung bereits stark eingeschränkt, geben die Autoren der Studie zu bedenken. Es gebe daher keine Entwarnung für den uneingeschränkten Besuch von Kirchen und Kulturveranstaltungen.
Dies gelte auch für öffentliche Verkehrsmittel: Hier war das Infektionsrisiko kleiner als etwa bei Fahrgemeinschaften, doch das lasse sich leicht dadurch erklären, dass die meisten Menschen im privaten Auto keine Maske tragen würden.«
Sie hat sich auch eine schöne Grafik machen lassen:
Was steht in der Studie?
»Aufgrund von Kostenerwägungen bei der Rekrutierung von Kontrollen und den Anforderungen, sie mit den Fällen in Bezug auf Alter, Geschlecht, Region, Bevölkerungsdichte und Zeitraum abzugleichen, waren für 41.871 Fälle nur 1.713 Kontrollen verfügbar. Um die Aussagekraft der Ergebnisse zu erhöhen und die Qualität des Abgleichs zu verbessern, der sich angesichts des großen Ungleichgewichts zwischen der Zahl der Fälle und der Kontrollen als schwierig erwies, führten wir einen exakten Abgleich von zwei Fällen pro Kontrolle innerhalb jedes Satzes von Abgleichsfaktoren (Alter, Geschlecht, Region, Bevölkerungsdichte und Zeitraum der Infektion) durch. Um die Auswirkungen zufälliger Schwankungen bei der Auswahl der Fälle für die verfügbaren Kontrollen zu minimieren, wurden 1.000 Zufallsstichproben von zwei Fällen pro Kontrolle mit Ersatz (Bootstrapping) durchgeführt. Anschließend berechneten wir die mittlere Anzahl der Fälle und Kontrollen für jede Expositionskategorie über die 1.000 Datenbanken. Außerdem führten wir 1.000 uni- und multivariable logistische Regressionsanalysen durch, bei denen die Matching-Faktoren und potenzielle Störfaktoren berücksichtigt wurden. Anschließend berechneten wir das mittlere logarithmische Odds-Ratio (OR) sowie die 2–5%- und 97–5%-Quantile des logarithmischen OR für jede Exposition, bevor wir diese potenzierten, um ORs und deren 95%-Konfidenzintervalle (CI) zu erhalten. Für die Altersanpassung verwendeten wir eine feinere Alterskategorisierung (10-Jahres-Kategorien) als die, die für den Prozess der Häufigkeitsanpassung verwendet wurde (18–28, 29–58, 59+ Jahre). Interaktionsterme wurden verwendet, um zu untersuchen, ob das Ausmaß der Assoziationen mit der SARS-CoV-2-Infektion für verschiedene Expositionen je nach Alterskategorie, Geschlecht, Bevölkerungsdichte, Zeitraum oder Beruf variierte.«
Mag sein, daß man in der Statistik so arbeitet. Als Laien will mir merkwürdig erscheinen, wie man 41.871 "Fälle" mit aus 1.713 "Kontrollen" berechneten Fällen von nicht positiv Getesteten vergleichen kann.
Es auf diesem Blog viele schöne Beiträge über Melanie Weiner, zuletzt Autos, Eier, Drogen.
Fall-Kontroll-Studien sind generell sehr anfällig für Verzerrungen und entsprechend wenig verlässlich hinsichtlich ihrer Befunde. Ein Hauptproblem ist, dass dabei meistens Äpfel und Birnen verglichen werden, weil Fallgruppe und Kontrollgruppe sich in ihren Merkmalen unterscheiden. Das kennt man zum Beispiel aus Studien über die Wirksamkeit von Medikamenten oder Impfungen. Die meisten Studien, die etwa eine Wirksamkeit von Grippeimpfungen "belegen", kommen auf ihre Ergebnisse primär durch systematische Verzerrungen aufgrund der Zusammensetzung von Fallgruppe und Kontrollgruppe. Beispielsweise ist bekannt, dass Personen, die sich gegen Grippe impfen lassen, mehr auf ihre "Gesundheit", auf Hygiene usw. achten, als solche, die das nicht tun. Auch gibt es mitunter sozioökonomische Differenzen zwischen beiden Gruppen. Das sind alles Faktoren, die die Anfälligkeit für Grippeerkrankungen beeinflussen können, während in solchen Studien die Differenzen aber fälschlicherweise als Wirkung der Impfung erscheinen. Würde man diese Faktoren statistisch kontrollieren, verschwände in den meisten Fällen auch der protektive Effekt der Impfung. Folgerichtig gibt es meines Wissens keine randomisierte, von solchen Verzerrungen freie Studie, die jemals einen evidenten Nutzen der Grippeimpfung belegt hätte.
Dass eine Studie mit einer mehr als 20 Mal kleineren Kontrollgruppe im Vergleich zu Fallgruppe wenig Aussagekraft hat, liegt jedenfalls auf der Hand.