Polarisierung, Aggression und Hysterisierung – über ein Land, das seine Debattenkultur verlor

In einem Essay mit obi­gem Titel auf han​dels​blatt​.com heißt es am 13.5. zu #alles­dicht­ma­chen:

»… Die Akteure waren nun­mehr nicht ein­fach nur Künstler, die das Recht auf sub­jek­ti­ven Ausdruck ihrer Gefühlslage und auf Provokation haben. Nein, sie erschie­nen den Rechten als Helden und vie­len ande­ren als Unsolidarische im Kampf gegen die Pandemie, als Defätisten und sozu­sa­gen „Wehrkraft-Zersetzer“ im gro­ßen Krieg gegen das Virus.

Die Freiheit der Kunst, eng ver­bun­den mit der Meinungsfreiheit, wur­de in die­sem Streit abge­räumt wie ein altes Möbel, das man nicht mehr braucht. Ein WDR-Rundfunkrat und frü­he­rer Landesminister for­der­te in einer ersten Reaktion sogar allen Ernstes, die Leute von #alles­dicht­ma­chen nicht mehr im „Tatort“ zu beschäftigen.

Debattenkultur befindet sich im Ausnahmezustand

Die Kontroverse zeigt im grell­sten Scheinwerferlicht, wie es inzwi­schen mit der deut­schen Debattenkultur bestellt ist… 

Niemand kann dem Einzelnen dabei die Angst neh­men vor dem Schlimmsten, was pas­sie­ren kann: nicht auf der rich­ti­gen Seite zu ste­hen. Den „Beifall von der fal­schen Seite“ zu bekom­men, was Hans Magnus Enzensberger schon 1962 beschrie­ben hat. Die Gesellschaft spal­tet sich…

Alles gerät im Handumdrehen zum gro­ßen „Kulturkampf“, vor allem wenn es um die Corona-Bedrohung geht, und wird dann in den Emotions-Talkshows der Republik oder auf den Webseiten weiterverarbeitet.

Wer da ande­rer Meinung ist, wird über die Stellflächen des Internets per­sön­lich attackiert und ver­ächt­lich gemacht. Man kann alles sagen, muss aber bereit sein, „Sozialscham“ zu ertra­gen. In letz­ter Konsequenz ist es von die­sem Punkt aus gar nicht mal so weit bis zum daten­ge­stütz­ten „Social Score“ des staats­ka­pi­ta­li­sti­schen Einparteienstaats China, der Bürger nach ihrer Sozialverträglichkeit schein­bar objek­tiv bewertet…

Der Ökonom John Stuart Mill hat es in sei­nem Klassiker „On Liberty“ vor mehr als 160 Jahren so beschrie­ben: Wer die herr­schen­de Meinung bestimmt, ten­die­re dazu, Personen mit ande­rer Meinung als unmo­ra­lisch zu betrachten.

15 Monate Pandemie haben eine gefähr­li­che Moralisierung in einem zuvor kaum zu ahnen­den Ausmaß wach­sen las­sen. Das Virus hat bekannt­lich für vie­le Schäden gesorgt: Todesfälle, Erkrankungen, Bildungseinbußen von Kindern, Gewalt in unglück­li­chen Ehen, Niedergang man­cher Kleinunternehmen, Kulturentzug.

Die Deformation der Debattenkultur aber ist der viel­leicht bedroh­lich­ste Kollateralschaden die­ser Krise. Sie sorgt dafür, dass wesent­li­che Pfeiler unse­res Systems brü­chig wer­den. Corona war auch hier der so oft zitier­te „Brandbeschleuniger“…

Früher hat­ten wir die „nivel­lier­te Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky), heu­te haben wir die nor­mier­te Mittelstandsgesellschaft. Niemand will in die­ser Welt stig­ma­ti­siert wer­den. Der VW-Konzern nicht, des­halb lässt er für sei­ne Ingolstädter Tochter die wahr­haft trend­kom­pa­ti­ble Bezeichnung „Audianer_innen“ ver­wen­den; Knorr aus dem Unilever-Konzern eben­falls nicht, wes­halb sein Klassiker „Zigeunersauce“ nun als „Paprikasauce Ungarischer Art“ firmiert.

Der „Gender Pay Gap“ bleibt in der Autoindustrie gleich­wohl bestehen, und die Arbeitsbedingungen in der Nahrungsmittel-indu­strie haben sich auch nicht ver­bes­sert, egal, ob man Migrationshintergrund hat oder nicht. Die pau­scha­le Klage der Buchautorin Sahra Wagenknecht über „Lifestyle-Linke“ ist ja auch ein Protest dage­gen, dass nicht mehr die Verhältnisse inter­es­sie­ren, son­dern nur die trick­reich gestal­te­te Wahrnehmung derselben…

Wurde in frü­he­ren Zeiten aus den poli­ti­schen Reihen der Linken ein Maximum an Freiheit, Selbstverwirklichung und Experiment gefor­dert, selbst­ver­ständ­lich gar­niert mit mas­si­ver Staatskritik, so kom­men jetzt von dort Vorschläge zur Eingrenzung der Liberalität.

Zugleich erhebt sich eine ganz neue Staatsgläubigkeit. Wir sehen eine ver­kehr­te Welt: Nun sind es Konservative, die über „Meinungsdiktatur“ und „Cancel Culture“ kla­gen. Wer erin­nert sich schon noch, wie Mitte der 1960er-Jahre Bundestagsabgeordnete von CDU und CSU rund um den Politiker Adolf Süsterhenn die deut­sche Jugend mit ihrer Aktion „Saubere Leinwand“ vor Sex und Schund im Kino schüt­zen woll­ten?«

Die Passagen, war­um aus Sicht des Autors die Linken (wir sind beim "Handelsblatt") an der Entwicklung Schuld sei­en, möge man im Original nach­le­sen. Das haben sie gewiß nicht auf dem Kerbholz:

»Als es um die Maßnahmen gegen Corona ging, war eine Fraktion der Wissenschaft qua­si regie­rungs­amt­lich im Verbund mit dem Robert Koch-Institut an vor­der­ster Stelle ver­tre­ten, mit Galionsfiguren wie Christian Drosten, Karl Lauterbach oder Viola Priesemann.

Die ande­ren kamen zwar auch coram publi­co vor – Hendrik Streeck, Klaus Stöhr, Jonas Schmidt-Chanasit –, wur­den aber vom Regierungsmedizin-Lager schon mal als „soge­nann­te Experten“ geschmäht. Oder von ein­zel­nen Medien wie dem „Spiegel“ als gefähr­lich abge­stem­pelt. Abweichende Meinungen, die es auch in der Wissenschaftsakademie Leopoldina, im Helmholtz-Institut oder im Ethikrat gab, wur­den vom Mehrheitslager um Angela Merkel schnell neutralisiert.

Und von der Bundesregierung wur­de dann am Ende behaup­tet, all ihre Maßnahmen sei­en auf die Wissenschaft zurück­zu­füh­ren – womit nur jene Experten gemeint waren, die den gewünsch­ten Rat pro Lockdown gaben. Das hat die Polarisierung und den Ton der Gespräche ange­heizt, aber kaum zur Rationalität der Entscheidungsfindung beigetragen.

Den Ton in die­ser ver­hin­der­ten Streitkultur setz­te Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus im Bundestag: Wer dem Infektionsschutz nicht zustim­me, neh­me in Kauf, dass Menschen krank wer­den oder ster­ben. Alarmismus ersetz­te Analyse. Das Parlament fiel als Zentralort einer inten­si­ven Streitkultur und offe­nen Gesellschaft weit­ge­hend aus.

Medien als verschärfender Faktor

Medien wer­den dabei zwangs­läu­fig zum Krise ver­schär­fen­den Faktor, wenn sie nicht mehr das gesam­te Meinungs- und Bewertungsspektrum auf­zei­gen, son­dern lie­ber selbst ein­ord­nen, was dem Streben nach einer bes­se­ren, kli­ma­freund­li­chen, gerech­ten Welt, frei von Rassismus dient. Manche nen­nen „Haltung“, was in Wirklichkeit schnell Manipulation ist. Journalismus hat zu allem Distanz zu hal­ten oder er hört auf, gut zu sein. Neutralität ist das „Reinheitsgebot“ die­ser Branche…«

9 Antworten auf „Polarisierung, Aggression und Hysterisierung – über ein Land, das seine Debattenkultur verlor“

  1. Obiges scheint ein inter­na­tio­na­les Problem zu sein.

    "Dr. Simon Backup
    @goddeksineal

    My main account @goddeketal
    is curr­ent­ly in Twitter jail for 7 days for citing a Texan Congress hearing.
    So one gets blocked for:
    citing govern­men­tal hea­rings refer­ring to peer-review­ed mask meta analyzes
    refer­ring to peer-review­ed vit­amin D papers 

    Understood, @jack"

    https://​twit​ter​.com/​g​o​d​d​e​k​s​i​n​eal

    Gemeint mit Jack ist der Gründer von Zwitscherer

  2. "Christoph Lütge@chluetge

    Preprint einer Studie der Uni Münster über mehr als 160.000 RT-PCR-Testergebnisse.
    Konklusion: RT-#PCR-Massentests soll­ten NICHT allein als Basis für Entscheidungsfindungen in einer Pandemie (ins­bes. Lockdowns, Quarantäne etc.) ver­wen­det werden.""

    Anmerkung zu den Autoren:
    Stang gilt als Koryphäe in sei­nem Fach, aber wer war Angela Spelsberg noch mal???
    (klei­ner Tip: Ex-Klabauterb…)

    https://​www​.medrxiv​.org/​c​o​n​t​e​n​t​/​1​0​.​1​1​0​1​/​2​0​2​1​.​0​5​.​0​6​.​2​1​2​5​6​2​8​9v1

  3. Frage an Rechtskundige:
    Aufnahme einer Formulierung "Ich ver­zich­te auf Fortsetzung der Behandlung, wenn Angehörige nicht (jeder­zeit) zu mir vor­ge­las­sen wer­den" (o.ä.) in die Patientenverfügung rechts­wirk­sam und umsetzungsfähig?
    Könnte viel Leid ersparen?
    Oder toppt das Infektionsschutzgesetz – war­um schützt man eigent­lich Infektionen und vor wem? -
    alle ande­ren Gesetze? 

    Anlass für frage:
    https://​www​.focus​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​d​e​u​t​s​c​h​l​a​n​d​/​s​c​h​w​a​r​z​e​r​-​k​a​n​a​l​/​f​o​c​u​s​-​k​o​l​u​m​n​e​-​v​o​n​-​j​a​n​-​f​l​e​i​s​c​h​h​a​u​e​r​-​w​e​r​-​z​a​e​h​l​t​-​a​l​s​-​o​p​f​e​r​_​i​d​_​1​3​2​9​7​1​3​4​.​h​tml

  4. Im Kapitalismus gibt es kei­ne Kultur! Weder eine freie noch eine Debattenkultur. Und wer glaubt daß die Medien jemals unab­hän­gig waren muss in sei­nem Leben Einiges ver­passt haben!

  5. Also ich glau­be nicht, dass von die­ser Spaltung der Gesellschaft in Zukunft was zurückbleibt.
    2023 wird wie­der alles Friede, Freude Eierkuchen sein
    2024 wird es dann hei­ßen "Corona… da war doch mal was"

    Viele Grüße,
    Der Ösi

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