Ein Leser und ärztlicher Psychotherapeut, der ungenannt bleiben möchte, hat Gedanken zu diesem Thema formuliert. Der vollständige Beitrag kann hier als PDF geladen werden. Einige seiner Thesen:
»1. Es wird wenig reflektiert, wie stark der medizinisch-technisch-diagnostische Fortschritt unsere Wirklichkeit verändert und dadurch neue ethische Fragestellungen entstehen… Die Verschiebung der ethischen Maßstäbe passiert ständig in der Medizin. Er geschieht aktuell krisenhaft und auf erschreckende Weise unreflektiert, wodurch eine unbewusste Dynamik entsteht…
2. Meistens wird der Tod tabuisiert, verleugnet, ausgeblendet. Im März waren alle von den Bildern traumatisiert. Schon allein einen Sarg zu sehen, ist für manche schon heftig, einen verkabelten Patienten auf der Intensivstation genauso. Die Vorstellung zu ersticken, löst Panik aus. Im März konnte man sich eine Zeitlang vorstellen: die Menschheit war bisher unsterblich, jetzt kommt eine Krankheit, die die Menschen mit 80 plötzlich sterben lässt.
Dies in Kombination mit der unter Punkt 1. genannten Verschiebung der ethischen Maßstäbe und den neuen Handlungs-/Kontrollmöglichkeiten, v.a. Testen und Impfen, erzeugte enormen Handlungsdruck, bzw. auf neue Art die Vorstellung, Schuld durch Unterlassung auf sich zu laden. Dann kam der Shutdown. Erst mal durchaus angemessen und sehr menschlich: alle vorsichtig sein und zu Hause bleiben, schauen was passiert, auch wenn's per Verordnung ist.
3. …Wir befinden uns jetzt im Krieg gegen das Virus. Hat das jemand geplant, oder könnte es auch strukturell, unbewusst, konflikthaft entstanden sein? Unser Wirtschaftssystem war schon immer auf Wachstum angewiesen, Rezession mit der Gefahr des Kollapses verbunden. Unsere Art zu wirtschaften verzeiht es nicht, wenn alle mal einen Monat erschrocken inne halten und gucken müssen, was eigentlich los ist. Die anfangs verständliche und notwendige Reaktion, jetzt bleiben wir bis Ostern mal zu Hause und gucken, ob es wirklich so schlimm ist, hat sofort so massive wirtschaftliche Folgen erzeugt, bzw. die Angst davor ausgelöst. So wie bei einer labilen Psyche ein harmloser Auslöser eine Panikattacke oder einen andern psychischen Zusammenbruch auslösen kann, und dann der harmlose Auslöser als gefährlich eingestuft wird…
Es ist eine typische "Kriegs-Dynamik" entstanden. Irgendwann weiß man nicht mehr, warum es angefangen hat, aber die entstandenen Schäden und Opfer, nicht durch den Feind, sondern den Krieg selbst, sind so hoch, dass das Feindbild aufrecht erhalten werden muss, um die Schäden und Opfer zu rechtfertigen. Alle müssen auf Linie bleiben, Kriegspropaganda, Durchhalteparolen. Es gibt Kriegstreiber und Pazifisten. Es gibt Abtrünnige, Dissidenten, Deserteure, Volksschädlinge…
Dazu passt, dass man ja täglich beobachten kann, dass die Gefährlichkeit des Virus, die Gefahr einen positiven Test zu haben, mehr durch die Angst vor den dann folgenden, inzwischen strukturell verankerten Bestrafungs- und Schädigungsmechanismen bedingt sind, als durch die Angst vor der Erkrankung selbst…
4. … Wovor sollen die Verantwortlichen mehr Angst haben: davor, dass die zweite Welle bzw. eine massive Übersterblichkeit kommt und ihnen die Toten angelastet werden, oder davor, dass sie eben nicht kommt und damit bewiesen ist, dass die Maßnahmen massiv übertrieben, die Schäden nicht gerechtfertigt waren. Ungemütlich…
Vor allem aufgrund dieses Konfliktes scheint wohl für die Politiker und andere Akteure die Impfung so attraktiv: Man darf voraussagen, dass dann nicht mehr so genau hingeschaut wird.
5. Es ist eine diffuse Vermischung von epidemiologischen Notwendigkeiten (Flatten the curve), ethischen Fragestellungen (jeder Covid-Tote ist zu viel) und subjektivem Bedrohungsgefühl entstanden. Das ist Taktik und Politik, es ist aber auch ein Charakteristikum von Angst: Sie überträgt sich, wird diffus, alles macht dann Angst und vermischt sich.
6. Es ist offensichtlich nicht mehr möglich, die notwendigen ethischen Diskussionen adäquat zu führen, diesbezüglich bewusste, reflektierte Entscheidungen zu treffen und eben dabei auch verschiedene Gesichtspunkte und Wertvorstellungen einfließen zu lassen…
Zum Beispiel argumentiert Bhakdi eigentlich weltanschaulich und nicht naturwissenschaftlich: Er ist ein Pazifist, der einen Krieg gegen das Virus ablehnt. Wenn man diese Weltanschauung nicht teilt, behauptet man, er habe im naturwissenschaftlichen Sinne nicht recht, verbreite falsche Fakten, weil man nicht in der Lage ist, auf diese ethisch-weltanschauliche Diskussionsebene zu gehen.
7. Es geht viel um den sozialen Druck, der aktuell erzeugt wird, und auch um die sogenannten "Mitläufer". Es geht aber um mehr als sozialen Druck und die Angst, sich gegen diesen zu stellen und ausgestoßen zu werden. Eine soziale Gemeinschaft, eine "Herde" schafft sich offensichtlich viel mehr als uns bewusst ist, das Zusammengehörigkeitsgefühl eben durch die Erschaffung einer gemeinsamen Realität. Wer diese nicht teilt, wird nicht nur sozial geächtet, sondern steht unter dem Verdacht, dass seine Realitätswahrnehmung leidet…
8. Alle haben aktuell vor allem eines: Angst. Die einen Angst vor dem Virus, die anderen Angst vor der Impfung. Angst verstärkt die Polarisierung in Gut und Böse. Wenn das Böse beim Virus bleibt, können die, die Verantwortung für uns haben, gut für uns bleiben. Wenn man die Angst vor dem Virus verliert, wird man Angst vor dem Menschen bekommen müssen. Am schlimmsten ist, die Angst auszuhalten, wenn man erkennt, dass die, von denen wir als Kinder dachten, dass sie die Dinge lenken und im Griff haben, ausgeliefert, hilflos und überfordert sind, wie wir selbst…
9. Wenn ein Psychotherapeut über "das Unbewusste" spricht, dieses deutet, klingt das dann manchmal so, wie wenn "das Unbewusste" einen Plan hätte, den es dann heimlich und unerkannt umsetzt. Oder derjenige, dem unbewusste Anteile gedeutet werden, versteht es fälschlicherweise so, dass ihm ein heimlicher, manipulativer Plan unterstellt wird ("eigentlich geht es ihnen um etwas Anderes"). Hier gibt es m.E. in der Gesellschaft einen Zusammenhang zu "Verschwörungstheorien".
10. Leider ist es vielleicht so, dass dieser Blick noch düsterer und pessimistischer ist, als die Vorstellung, knallharte Interessen und Mächte planen im Hintergrund. Diese müsste man ja nur überführen. Da es komplizierter ist, geht es nur mit kultureller Weiterentwicklung, "Therapie", Reifung, Bewusstwerdung, Reflektion. Prozesse also, die zu langsam ablaufen, um mit den modernen Hochgeschwindigkeitsdynamiken mit zu halten.«
Vielleicht mag der Verfasser dieses Beitrages am geplanten
Kongress der Neuen Gesellschaft d. Psychologie teilnehmen:
https://www.ngfp.de/kongresse/ngfp-kongress-2021/
Hier ein lesenswerter Beitrag des Vorsitzendenden der NGfP
https://neue-debatte.com/2020/10/13/das-fluten-des-realen/