Wie Boris Palmer Tübingen wiederbelebte

Ehrenerklärungen sind zur Zeit so glaub­wür­dig wie Prospekte von Versicherungsvertretern oder Zahlen des RKI. Dennoch gebe ich mein Wort, daß es sich hier um die Originalüberschrift eines Artikels (lei­der hin­ter der Bezahlschranke) auf welt​.de am 26.3. handelt.

Im dort ver­öf­fent­lich­ten Transkript eines Videos wird der Oberbürgermeister der fast ver­stor­be­nen Stadt so zitiert:

»Wir haben in der ersten Woche 30.000 Tests durch­ge­führt, davon 30 bestä­tig­te posi­ti­ve Fälle gefun­den. Und da muss man zum Vergleich wis­sen, in Tübingen wer­den zur­zeit pro Woche etwa 25 posi­ti­ve Fälle regi­striert, weil unse­re Inzidenz sehr nied­rig liegt. Sie ist bei 30. 

Wir haben also so vie­le Unbekannte gefun­den, wie sich ins­ge­samt in Tübingen nor­ma­ler­wei­se in einer Woche als infi­ziert erwei­sen. Und damit ist es schon ein sehr wirk­sa­mes Modell, um die Pandemie in den Griff zu krie­gen. Wir haben also wahr­schein­lich in die­sen Tagen jetzt die Öffnung des Handels und der Gastronomie und der Kultur erreicht, ohne höhe­re Infektionen. Und wenn sich das bewahr­hei­tet in den näch­sten Tagen des Versuchs, dann den­ke ich schon, dass das bun­des­weit in die­ser Weise auch mach­bar wäre.«

Das ein­zig Schlüssige, das dem Kauderwelsch zu ent­neh­men ist: Die Stadt erwacht aus dem Koma, weil 30.000 Tests 25 posi­ti­ve Fälle erge­ben. In der Woche.

In einem kri­ti­schen Kommentar vom glei­chen Tag ist zu lesen:

»Wer shop­pen oder ins Kino will, kann an Teststationen einen Antigen-Schnelltest machen las­sen – ein QR-Code auf einem Papierarmband dient dann als Eintrittskarte ins Amüsement. Andere Städte wol­len nachziehen…

Tatsächlich ist Testen eine fei­ne Sache, wenn man es rich­tig macht. Für das Tübinger Modell ist das noch nicht klar. Es hakt ein wenig. Es gab falsch-posi­ti­ve Befunde wegen zu nied­ri­ger Umgebungstemperaturen, zwei der neun Teststationen muss­ten schlie­ßen, weil kein Personal für die Abstriche da war. Auch die wis­sen­schaft­li­che Auswertung des Experiments ist nicht gesi­chert – die Forscher haben gera­de zu viel ande­res zu tun. Darüber hin­aus hat der Antigentest das bekann­te Problem, dass sein Ergebnis maxi­mal einen Tag lang gül­tig ist – und fal­sche Sicherheit sug­ge­rie­ren kann. Der Antigentest taugt, im besten Fall, als Partytest.«

Die Autorin ist mit­nich­ten gegen Tests. Sie favo­ri­siert das Schweizer Modell:

»Es ist ein Heidenaufwand, kostet irres Geld – und bei Hunderttausenden Tests wur­den bis­lang nur weni­ge Hundert Positive her­aus­ge­fischt. Aber die­se Teststrategie ist sicher, wis­sen­schaft­lich vali­diert. Infektionsketten wer­den ver­hin­dert und ein nega­ti­ves Ergebnis hält nicht nur einen Shoppingnachmittag, son­dern meh­re­re Tage lang.«

Ausnahmsweise schlie­ße ich mich der all­ge­mei­nen Verrohung der Kommentierungen an und fra­ge: "Haben die alle einen am Appel bei der 'Welt'?" Über Herrn Palmer schwei­ge ich.

8 Antworten auf „Wie Boris Palmer Tübingen wiederbelebte“

  1. Zitat Start:
    "Infektionsketten wer­den ver­hin­dert und ein nega­ti­ves Ergebnis hält nicht nur einen Shoppingnachmittag, son­dern meh­re­re Tage lang."
    Zitat Ende
    Frage:
    Ich infi­zie­re mich 4 Stunden nach einem nega­ti­ven Test. War es ein Schnelltest bin ich bereits weni­ge Stunden danach infek­ti­ös und bei einem PCR Test erst nach meh­re­ren Tagen?

    Keine Ahnung, was die sich rein zie­hen, aber das will ich auch!

  2. Tübingen hat ca. 89.000 Einwohner. D.h. schräg mal Auge ca. 30 Inzidenz mit Trinkgeld. Wenn er nun aber 30 statt 25 Positive fin­det, dann ist die Inzidenz ja in "Wahrheit" höher. Und die Bürgermeise freut sich, dass sie mal Mathematik (und Geschichte) stu­diert hat und nun die "tat­säch­li­che" *kreisch* Infektionslage im Städele bes­ser kennt.

    1. @some1:
      Städele ist für mich als Stuttgarter Ureinwohner etwas gru­se­li­ges, da es nur in einem prseu­do-schwä­bi­schen Lied vor kommt!
      Wir benut­zen das Wort "Städtle", gespro­chen etwa "Schdäddle".

      Ansonsten mag ich Ihre Kommentare sehr ger­ne, da Sie eine höchst bele­se­ne und humor­vol­le Person zu sein schei­nen! (Daumen hoch!) 😉

  3. Unten ist ein Link auf ein Video vom Montag, 22.03.2021.
    Auf die Inzidenzzahl ange­spro­chen wird Herr Palmer spitzfindig.
    https://www.ardmediathek.de/video/swr-aktuell-baden-wuerttemberg/sendung-19–30-uhr-vom-22–3‑2021/swr-baden-wuerttemberg/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE0MzAyMzA/
    Moderator: der Landkreis Tübingen hat­te am Montag (22.03.'21) einen Inzidenzwert von 70 (08:10).
    Laut Landratsamt, sagt Palmer, hät­te die Stadt Tübingen einen Inzidenzwert von 30 (09:11).
    Die Kitas und Schulen in den Gemeinden rings um die Stadt Tübingen wür­den für Erhöhung des Inzidenzwertes [des Landkreises?] sorgen.

    Was ich nicht verstehe:
    Wenn er bei 30.000 Tests 30 posi­ti­ve Testergebnisse in einer Woche hat (10:08 u. 10:57), sorgt das doch allei­ne schon für eine wei­te­re Erhöhung der Inzidenz von 30 um 33 (91.000 Einwohner) auf 63!
    Also, wenn er nur mit den "Positiven" sei­ner Schnelltests in einer Woche schon auf eine Inzidenz von 33 kommt und ins­ge­samt nur eine Inzidenz von 30 hat, dann hat er doch vor­her eine Inzidenz von ‑3 gehabt???
    Oder wie? Oder was?

  4. Das ist wie­der so ein Testballon für den Rest der Republik. Wenn nicht genü­gend Widerstand kommt machen fie das über­all. Erschreckend ist wie vie­le das toll fin­den, weil ihnen das so ver­kauft wird.…ohne Kosten-Nutzenanalyse, ohne Bezug auf Testqualität,.…..
    ohne wirk­li­che Notwendigkeit.

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