"Wir setzen falsche Prioritäten"

»Basis für das neue Infektionsschutzgesetz ist die Sieben-Tage-Inzidenz. Doch das ist ein schwe­rer Fehler, kri­ti­siert Epidemiologe Krause im tagesschau.de-Interview – und schlägt vor, wie es bes­ser gehen könnte…

Krause: …Wir star­ren immer noch auf die fal­schen Indikatoren, set­zen des­we­gen die fal­schen Prioritäten und wun­dern uns, dass wir kaum Fortschritt machen.

tages​schau​.de: Sie mei­nen die Fixierung auf die Sieben-Tage-Inzidenz in dem Gesetz? Alleine ist die­se nicht aus­rei­chend aus­sa­ge­kräf­tig, oder?

Krause: Genau, die­ser Wert war schon immer pro­ble­ma­tisch, aber inzwi­schen wird er rich­tig­ge­hend untaug­lich. Die Sieben-Tage-Inzidenz ent­kop­pelt sich immer mehr von der eigent­li­chen gesund­heit­li­chen Lage.

Das hat zwei Ursachen, die für sich sogar erwünscht sind. Erstens, es wird jetzt deut­lich mehr gete­stet, das führt zu deut­lich mehr Meldungen von Infektionen, die zuvor uner­kannt geblie­ben wären. Soweit ist das gut, aber die Sieben-Tage-Inzidenz reflek­tiert nur die posi­ti­ven Tests – und nicht, ob die Menschen auch erkrankt sind. Dazu kommt, dass der Wert nicht berück­sich­tigt, wel­che Bevölkerungsgruppen betrof­fen sind. Zweitens: Durch die Impfungen wer­den schwe­re Erkrankungen sel­te­ner, selbst dann wenn die Zahl der Infektionen nicht ganz so schnell sinkt.

Man könn­te bei­spiels­wei­se den Inzidenzwert in die Höhe trei­ben, wenn man in allen Schulen täg­lich testen wür­de. Die aller­mei­sten der so ent­deck­ten Infektionen hät­ten kei­ne Erkrankungen zur Folge. Die so gestie­ge­ne Inzidenz wür­de also die Behörden zwin­gen, Ausgangssperren, Schulschließungen und ande­re Maßnahmen zu tref­fen, obwohl sich die pan­de­mi­sche Lage gar nicht ver­schlech­tert hät­te, also gar nicht mehr Menschen als vor­her über­haupt medi­zi­nisch ver­sorgt wer­den müssten.

tages​schau​.de: Aber an wel­chem Wert soll­te sich die Politik dann statt­des­sen orientieren?

Krause: Wenn man es ein­fach hal­ten will, um damit auch die Akzeptanz bei den Regierenden zu sichern, dann gäbe es tat­säch­lich einen alter­na­ti­ven Parameter: die Anzahl der inten­siv­me­di­zi­ni­schen Neuaufnahmen bin­nen einer Woche pro 100.000 Einwohner der Herkunftsorte der Patienten. Also die Anzahl der Menschen aus einer bestimm­ten Region, die wegen einer schwe­ren Covid-19-Erkrankung auf einer Intensivstation neu auf­ge­nom­men wer­den müs­sen – egal wo sich die­se Station dann befin­det. Dieser Wert zeigt viel sta­bi­ler die epi­de­mi­sche Lage an, als die bis­he­ri­ge Sieben-Tage-Inzidenz… 

tages​schau​.de: Ein Punkt in dem neu­en Gesetz ist ja beson­ders umstrit­ten: die nächt­li­che Ausgangssperre. Was hal­ten Sie davon? 

Krause: Vielleicht ist der wich­tig­ste Effekt dabei die psy­cho­lo­gi­sche Signalwirkung an die Bevölkerung: dass die Lage nach wie vor schwie­rig ist und wir wech­sel­sei­ti­ge pri­va­te Besuche weit­ge­hend ver­mei­den soll­ten. Ob das wirk­lich der Bereich ist, in der­zeit die mei­sten Übertragungen statt­fin­den, ist eine ande­re Frage.

tages​schau​.de: Was wür­den Sie an dem neu­en Infektionsschutzgesetz ändern? 

Krause:Unabhängig von inten­siv­me­di­zi­ni­schen Neuaufnahmen müss­ten ein paar Zusatzinformationen erho­ben und über­mitt­lungs­pflich­tig gemacht wer­den, wie etwa Berufsgruppen. Denn dann könn­te man auch viel bes­ser beur­tei­len, wel­che Bevölkerungsgruppen beson­ders gefähr­det sind und wo es beson­ders vie­le Infektionen gibt. Also ob Personal in Schulen bei­spiels­wei­se stär­ker betrof­fen ist als Beschäftigte im Einzelhandel…«

9 Antworten auf „"Wir setzen falsche Prioritäten"“

  1. Immerhin! In der Tat, wenn es einen zuver­läs­si­gen Parameter gibt, dann ist das die Anzahl der lebens­be­droh­li­chen Erkrankungen, genau­er, der Lungenentzündungen, die laut RKI etwa 1% aller posi­tiv gete­ste­ten aus­ma­chen und die mit zuneh­men­der Testaktivitaet sin­ken muss. Heute hie­ße es von Wieder und Spahn in der Bundespressekonferenz wie­der ein­mal, die Intensivstationen wür­den voll lau­fen. Das ist schlicht­weg gelo­gen. Die Zahl der Intensiv Patienten sank heu­te um 1 Patienten, nach­dem sie 2 Wochen lang in abneh­men­dem Ausmaße gestie­gen war. Da erfährt man dann auf der DIVI-Seite, dass es über 600 Neuaufnahmen gege­ben habe. Dahinter steht ein Sternchen und dann der Hinweis, dass die­se Zahl auch die Zahl der Verlegungen beinhal­te. Was soll man mit einem der­ar­ti­gen Zahlenmist anfan­gen? Zwar wird die Zahl der gestor­be­nen ange­ge­ben aber nicht die Zahl der Genesenen. Man kann sich nun ver­su­chen dar­auf einen Reim zu machen und nimmt an, dass die Tal der Genesenen der Zahl der Neuaufnahmen abzüg­lich der Zahl der gestor­be­nen ent­spricht, da sich ja die Belegung nicht geän­dert hat. Aber die Zahl der Neuaufnahmen ent­hält die Zahl der Verlegungen. Anders aus­ge­drückt: Intensivstation in Stadt A hat 600 Neuaufnahmen, wäh­rend die Intensivstation in Stadt B 600 Verlegungen hat. Die Belegung ist kon­stant und nie­mand gene­sen. Oder es gibt 300 Verlegungen und 300 sind gene­sen wäh­rend 300 neue Patienten hin­zu­ge­kom­men sind.
    Welche Hohlkoepfe pro­du­zie­ren der­ar­ti­ge Zahlen.
    Für eine rea­li­sti­sche Beurteilung der Lage sind die­se Zahlen unbrauchbar.
    Es drängt sich der Verdacht auf, dass das alles nur der Verschleierung dient, denn die Anzahl der beleg­ten Intensivierten ist sei Juni 2020 konstant.
    Lediglich die Auslastung ist gestie­gen. Kein Wunder, wenn ein paar tau­send Betten abge­mel­det wer­den. Ich hof­fe sehr, dass die Zeit kommt, zu der die­se Gangster vor Gericht gestellt werden.

    1. Solange die Krankenhausärzte von den Geschäftsführern, wel­che von Medizin etwa soviel Ahnung haben wie ein Bahnmanager von der Eisenbahn (und ich weiß wovon ich rede), Zielvorgaben bezüg­lich der Belegung von Stationen bekom­men, sind alle die­se Statistiken als Entscheidungsgrundlage unbrauchbar.

  2. Mit dem rich­ti­gen Anreizsystem wer­den die Krankenhäuser dann die Leute von nor­ma­len Betten auf die Intensivstation verlegen.

  3. "Vielleicht ist der wich­tig­ste Effekt dabei die psy­cho­lo­gi­sche Signalwirkung an die Bevölkerung"
    Soweit sind wir, dass mas­siv­ster, flä­chen­decken­der Freiheitsentzug von eini­gen anschei­nend akzep­tiert wird, um "psy­cho­lo­gi­sche Signalwirkung" zu erzielen.
    Wie erfolg­rei­che Infektionsbekämpfung aus­se­hen kann, zeigt Schweden: Die aktu­el­len Zahlen (ins­bes. das Verhältnis neue posi­ti­ve Tests und Verstorbene in den Wochen 13 nud 14/2021) sie­he: https://​www​.ecdc​.euro​pa​.eu/​e​n​/​c​a​s​e​s​-​2​0​1​9​-​n​c​o​v​-​e​u​eea
    Die Zahlen zei­gen deut­lich, wie unsin­nig "Inzidenzen" zur Beurteilung der Lage sind.

  4. "Vielleicht ist der wich­tig­ste Effekt dabei die psy­cho­lo­gi­sche Signalwirkung an die Bevölkerung"
    Soweit sind wir, dass eini­ge schein­bar einen mas­siv­sten, flä­che­decken­den Freiheitsentzug akzep­tie­ren, um eine "psy­cho­lo­gi­sche Signalwirkung" zu erzielen.
    Wie bes­se­re Gesundheitspolitik funk­tio­niert, zeigt Schweden: Aktuelle Zahlen (ins­bes. das Verhältnis der Zahl der neu­en posi­ti­ven Tests zu den Todesfällen der let­zen zwei Wochen KW13 und 14): https://​www​.ecdc​.euro​pa​.eu/​e​n​/​c​a​s​e​s​-​2​0​1​9​-​n​c​o​v​-​e​u​eea zei­gen auch, wie unbrauch­bar "Inzidenzen" zur Beurteilung der Lage sind.

  5. „Krause: (…)
    Das hat zwei Ursachen, die für sich sogar erwünscht sind. Erstens, es wird jetzt deut­lich mehr gete­stet, das führt zu deut­lich mehr Meldungen von Infektionen, die zuvor uner­kannt geblie­ben wären.“

    Das ist wie­der die Mär von den asym­pto­ma­ti­schen Übertragungen.
    Und gleich im näch­sten Satz:

    „Soweit ist das gut, aber die Sieben-Tage-Inzidenz reflek­tiert nur die posi­ti­ven Tests – und nicht, ob die Menschen auch erkrankt sind.“

    Das bedeu­tet Menschen die kei­ne Symptome haben sind nicht krank, dürf­ten nicht mit­ge­zählt wer­den, sind nicht gefährlich.

    Hier wäre die Zwischenfrage ange­bracht war­um man dann über­haupt mit­tels Test nach sym­ptom­lo­sen „Infektionen“ sucht.

    „Krause: Wenn man es ein­fach hal­ten will, um damit auch die Akzeptanz bei den Regierenden zu sichern, dann gäbe es tat­säch­lich einen alter­na­ti­ven Parameter: die Anzahl der inten­siv­me­di­zi­ni­schen Neuaufnahmen bin­nen einer Woche pro 100.000 Einwohner der Herkunftsorte der Patienten. Also die Anzahl der Menschen aus einer bestimm­ten Region, die wegen einer schwe­ren Covid-19-Erkrankung auf einer Intensivstation neu auf­ge­nom­men wer­den müs­sen – egal wo sich die­se Station dann befin­det. Dieser Wert zeigt viel sta­bi­ler die epi­de­mi­sche Lage an, als die bis­he­ri­ge Sieben-Tage-Inzidenz…“

    Der Mann ist ein Schlitzohr. Sicher weiß der ganz genau, wer­den nur die Patienten gezählt die tat­säch­lich wegen Covid-19 behan­delt wer­den müs­sen ist die Pandemie vor­bei, denn mit dem kläg­li­chen Rest lie­ße sich kei­ne Panik mehr schüren.

  6. @Archimedes:
    yep!
    "Ecrasez l'infâme!"

    Könnte an den "Clustern" lie­gen (sic!)
    https://​www​.pz​-news​.de/​b​a​d​e​n​-​w​u​e​r​t​t​e​m​b​e​r​g​_​a​r​t​i​k​e​l​,​-​K​l​i​n​i​k​e​n​-​b​e​i​-​I​n​t​e​n​s​i​v​-​B​e​t​t​e​n​-​a​m​-​L​i​m​i​t​-​C​l​u​s​t​e​r​-​s​o​l​l​e​n​-​h​e​l​f​e​n​-​_​a​r​i​d​,​1​5​0​8​1​2​0​.​h​tml
    Sehr prak­tisch: Patientin("m/w/d") X kommt in's hei­mat­na­he Krankenhaus A (wes­we­gen auch immer). Nach dem obli­ga­to­ri­schen Test wird sie, falls "posi­tiv" (egal ob mit oder ohne Symptome) als Covid-19-Patient regi­striert und, falls es mit den (Covid-19-)Betten dort gera­de knapp wird, in Krankenhaus B ver­legt, wo sie (als X oder gleich als Y) neu gezählt wird. Und, falls wie­der was frei: zurück nach A. Macht schon 3 "Neueinweisungen".

    Problem: die GangsterInnen sind über­all. Neben den direk­ten Profiteuren noch in: Exekutive, Legislative, Judikative, Medien.
    Schwer vor­stell­bar, dass es in D nach einem Kriegsende, sagen wir: 1941 (vor "Unternehmen Barbarossa") auch nur den Hauch einer Aufarbeitung der bis dahin bereits began­ge­nen Verbrechen (gegen die Menschlichkeit: von "Schutzhaft", "Arisierung", Überfall auf Polen etc.pp) gege­ben hätte.
    Sogar mit Hilfe der Alliierten war die "Entnazifizierung" (zumin­dest in der BRD) fast 20 Jahre lang eher ein Witz, bei der ledig­lich ein paar Galionsfiguren vor Gericht gestellt wurden.
    Nun sind wir ja bei wei­tem (noch) nicht in die­ser "bis-1941-Liga", wenn­gleich die ‑auch von der WHO ein­ge­räum­ten- mil­lio­nen­fa­chen welt­wei­ten Existenzvernichtungen, vor allem der Ärmsten, unbe­dingt mit zu berück­sich­ti­gen sind.
    Allein des­halb ist eine Verharmlosung des­sen, was welt­weit, unter ande­rem durch "Anstiftung" ‑vor allem der rei­chen Länder- pas­siert unangebracht.

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