Die „dritte Welle“ der Pandemie rollt unbemerkt

Das ist die Überschrift eines Artikels auf faz​.net, der sich mit den "psy­chi­schen Folgen von Covid-19" beschäf­tigt.

»Die "drit­te Welle" in der Pandemie scheint unauf­halt­sam. Es ist die der psy­chi­schen Leiden. Sie trifft jun­ge Menschen genau­so wie Erwachsene. Warum bleibt der Staat so passiv?

Vierzehn schma­le Zeilen in einem zwölf­sei­ti­gen Dokument, dazu kei­ne ein­zi­ge Zahl. Und über dem klei­nen Kapitel der pro­vo­zie­rend schlich­te Titel: "Soziale und psy­chi­sche Folgen abmil­dern". In der jüng­sten Stellungnahme der Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina wur­de der Bewältigung der psy­chi­schen Folgen der Pandemie genau die Position zuge­wie­sen, die der Psyche seit Jahrzehnten im Gesundheitswesen zukommt: ganz am Ende, nah dran an einer Fußnote. 

Nur vage deu­tet sich in der Experten-Prosa an, was sich in den ver­gan­ge­nen Tagen immer stär­ker ver­dich­te­te: Die medi­zi­ni­schen Fachgesellschaften sind alar­miert. Vikram Patel, einer der welt­weit renom­mier­te­sten Psychiater an der Harvard Medical School und vor Jahren vom "Time"-Magazin zu den hun­dert ein­fluss­reich­sten Menschen gezählt, kün­dig­te auf der Konferenz der Europäischen Gesellschaft für kli­ni­sche Mikrobiologie und Infektionskrankheiten einen welt­wei­ten "Tsunami" schwe­rer psy­chi­scher Leiden an. "Auf die Finanzkrise und Rezession von 2008, die zum größ­ten Teil ja nur die Vereinigten Staaten getrof­fen hat, folg­te eine Welle der ,Todesfälle aus Verzweiflung‘, ange­führt durch Suizide und Medikamentenmissbrauch", und soll­ten die Regierungen nicht han­deln, wer­de die Welt eine Wiederholung erle­ben, "nur wahr­schein­lich eben in viel grö­ße­rem Ausmaß".

Auch Katharina Domschke warnt im Interview unver­hoh­len: "Alle Studien bis­her sagen uns, dass eine drit­te Welle zu erwar­ten ist, die der psy­chi­schen Erkrankungen." Die Psychiaterin, Direktorin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg, war in der Corona-Arbeitsgruppe der Leopoldina ver­tre­ten, in der betont sach­te for­mu­liert wur­de, eine "Zunahme der psy­cho­so­zia­len Belastung der Bevölkerung" sei zu erwar­ten. Das ent­spricht etwa dem Duktus, der die Krise der psy­chi­schen Gesundheit seit Jahrzehnten beglei­tet und bis unter die Wahrnehmungsschwelle von Politik und Öffentlichkeit drückt. Patel hat das Debakel in sei­ner Rede in Erinnerung geru­fen: "Die Krankheitslast durch schwe­re see­li­sche Leiden und Substanzmissbrauch hat sich in den ver­gan­ge­nen fünf­und­zwan­zig Jahren um 50 Prozent erhöht." Und was hat die Covid-19-Pandemie damit zu tun? Sie ist offen­kun­dig dabei, die Krise im Laufe der näch­sten Monate und Jahre erheb­lich zu verschärfen…

Laut aktu­el­ler Daten der KKH-Krankenversicherung haben sich die Krankmeldungen wegen psy­chi­scher Störungen im Laufe des Pandemiejahres, ver­gli­chen mit dem Vorjahr, um acht­zig Prozent erhöht. Auf einer von der Leopoldina mode­rier­ten inter­na­tio­na­len Podiumsdiskussion hat Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité, dar­an erin­nert, wie umfang­reich und wie breit die Unterstützung für die Betroffenen am Anfang der Pandemie aus­ge­fal­len war. Mittlerweile ver­viel­fäl­tigt sich die Not. Dreißig Prozent der aku­ten Fälle in Berlin sei­en sozi­al Benachteiligte, häu­fig Obdachlose, und auch Zugereiste mit Sprachproblemen…

In der Leopoldina-Stellungnahme wer­den zudem "Unterstützungs­angebote" wie Telefonhotlines und Online-Therapien emp­foh­len und für die Resilienz – die Stärkung der psy­chi­schen Widerstandskraft – "die Förderung kör­per­li­cher Bewegung". Sport sowie vom Arzt beglei­te­te Lichttherapie sei­en in der Tat aner­kann­te Antidepressiva, betont Domschke. Doch sie lässt kei­nen Zweifel, dass neben sol­chen basa­len Maßnahmen, die immer auch vom Engagement vie­ler Betroffener abhän­gen, der Staat in die Pflicht zu neh­men sei: "Das ist eine Haltungsfrage. Die Regierung muss sich über die Ressourcenverteilung Gedanken machen." Man kön­ne sich nicht erlau­ben, für die Freihaltung der Klinikbetten die psy­chi­sche Gesundheit der Bevölkerung zu gefähr­den. Damit erin­nert sie dar­an, dass auch vie­le der gro­ßen Psychiatrien in der ersten Phase der Pandemie zur Bereitstellung von Isolationszimmern frei­ge­räumt und vie­le Psychotherapie-Patienten auf unbe­stimm­te Zeit allein­ge­las­sen wurden.«

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