Proteste gegen die obrigkeitliche Seuchenbekämpfung

Eine inter­es­san­te Bild­be­schrei­bung und ein dis­kus­si­ons­wür­di­ges Fazit.

http://www.dmm-ingolstadt.de/covid-19/covid-19-history/praevention‑v.html

»Covid-19 pola­ri­siert die Gesell­schaft. Doch eigent­lich ist es nicht die Krank­heit, die vie­le auf­be­geh­ren lässt. Nur ein klei­ner Teil der Bevöl­ke­rung hat Covid-19 in Deutsch­land bis­her selbst erle­ben müs­sen. Uns wird viel­mehr die Prä­ven­ti­on zur Last. Denn die damit ein­her­ge­hen­den Maß­nah­men betref­fen uns alle.

Eine Illus­tra­ti­on aus einer deutsch­spra­chi­gen Zeit­schrift von 1884 zeigt auf den ers­ten Blick eine ähn­li­che Situa­ti­on: Men­schen begeh­ren gegen das Ein­grei­fen der Obrig­keit in Seu­chen­zei­ten auf. Eine jun­ge Frau klam­mert sich ver­zwei­felt an eine Kran­ken­bah­re. Neben ihr ist ein Obst­korb umge­fal­len, über ihr ragt male­risch ein zer­fetz­tes Son­nen­se­gel in die Sze­ne. Poli­zis­ten nähern sich, um die Kran­ken­bah­re mit­zu­neh­men und ins Cho­le­r­aspi­tal zu brin­gen. Wir bli­cken hier auf eine Stra­ßen­sze­ne in Nea­pel, wo es wäh­rend der fünf­ten Cho­le­ra-Pan­de­mie im Jahr 1884 zu Auf­stän­den kam, die euro­pa­weit für Schlag­zei­len sorg­ten. Der Künst­ler hat sich in die­sem Fall für eine roman­ti­sie­ren­de Detail­dar­stel­lung ent­schie­den. Es gibt aber auch Abbil­dun­gen von gro­ßen, auf­ge­brach­ten Men­schen­men­gen. In ande­ren euro­päi­schen Städ­ten, die unter der­sel­ben Pan­de­mie lit­ten, etwa in Paris und Ham­burg, gab es kei­ne ver­gleich­ba­ren Sze­nen. Was also war die Ursa­che für die Wut und die Ver­zweif­lung, die sich hier in Nea­pel entluden?

Der His­to­ri­ker Frank Mar­tin Snow­den hat die­ser Fra­ge 1995 ein eige­nes Buch gewid­met: „Nap­les in the Time of Cho­le­ra 1884–1911“. Das Auf­be­geh­ren der Nea­po­li­ta­ner, so Snow­den, rich­te­te sich zwar vor­der­grün­dig gegen die Cho­le­ra­maß­nah­men der Obrig­keit, wur­zel­te aber viel tie­fer. Nea­pel war damals die größ­te Stadt Ita­li­ens. Sie litt unter Über­be­völ­ke­rung, in den Armen­vier­teln leb­ten die Men­schen unter unzu­mut­ba­ren Bedin­gun­gen, vie­le waren gezwun­gen, sich auf ille­ga­len Wegen ihren Lebens­un­ter­halt zu ver­schaf­fen. Auf der ande­ren Sei­te der sozia­len Sche­re gab es eine rei­che Ober­schicht, die sich ein­fluss­rei­che Ämter zuschanz­te, ohne über ent­spre­chen­de Qua­li­fi­ka­tio­nen zu ver­fü­gen. Ihre medi­zi­ni­sche Betreu­ung lag in den Hän­den arro­gan­ter Ärz­te, die sich vom ein­fa­chen Volk distan­zier­ten. Dazu kam das Miss­trau­en vie­ler Nea­po­li­ta­ne­rIn­nen gegen­über den nörd­li­chen Gegen­den Ita­li­ens, wohin seit 1861 auch die Steu­ern aus Nea­pel flossen.

Als die Cho­le­ra sich, von Süd­frank­reich kom­mend, nach Ita­li­en aus­brei­te­te, wüte­te sie auch in den Armen­vier­teln von Nea­pel. Die Stadt­ver­wal­tung setz­te auf einen har­ten Zugriff durch die Poli­zei, um Erkrank­te in die Cho­le­r­aspi­tä­ler zu brin­gen – und stieß dabei auf star­ken Wider­stand in der Bevöl­ke­rung, so wie das auch in die­ser Illus­tra­ti­on gezeigt wird. Die Bewoh­ne­rIn­nen der Armen­vier­tel miss­trau­ten der Obrig­keit. Sie befürch­te­ten, dass ihre kran­ken Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen nicht mehr lebend aus den Kran­ken­häu­sern zurück­kom­men wür­den. Die­se Befürch­tung wur­de nicht nur durch die offen­sicht­li­che Hilf­lo­sig­keit der Ärz­te genährt, son­dern auch durch Gerüch­te von the­ra­peu­ti­schen Expe­ri­men­ten, die in den Cho­le­r­aspi­tä­lern durch­ge­führt wür­den. Wenig Ver­trau­en erweck­te auch die Tat­sa­che, dass die Ärz­te sich selbst uneins waren – die einen ver­tra­ten die alte Mias­ma­leh­re, die ande­ren glaub­ten an die Keim­theo­rie von Robert Koch.

Ein Gerücht mach­te die Run­de: Die Cho­le­ra sei eine teuf­li­sche Ver­schwö­rung, die das Ziel habe, die Armen zu ver­gif­ten. Die hoch­nä­si­gen Ärz­te sei­en mit dem Voll­zug die­ser Mas­sen­ver­gif­tung beauf­tragt. Aus die­ser Gemenge­la­ge her­aus kam es im Cho­le­ra­jahr 1884 mehr­mals zu grö­ße­ren Auf­stän­den in Nea­pel. Fehl­in­for­ma­tio­nen sind in Seu­chen­zei­ten beson­ders gefähr­lich, weil sie die durch die Seu­chen­ge­fahr bereits ver­un­si­cher­te Gesell­schaft schnell pola­ri­sie­ren und bereits vor­han­de­ne Kon­flik­te schü­ren. Das wird aus die­sem Bei­spiel deut­lich – und das lässt sich, wie ein­gangs bemerkt, auch heu­te beobachten.

Autorin­nen:
The­re­sa Fehl­ner M.A.
Prof. Dr. Mari­on Ruisinger
Deut­sches Medi­zin­his­to­ri­sches Muse­um Ingolstadt

Lite­ra­tur:
- Snow­den, Frank M.: Nap­les in the Time of Cho­le­ra 1884–1911. Cam­bridge 1995
- McN­eill, Wil­liam H.: Rezen­si­on von Frank M. Snow­den, Nap­les in the Time of Cho­le­ra. In: Bul­le­tin of the Histo­ry of Medi­ci­ne 71 (1997), link (Zugriff: 14.5.2020)«

Das Bild ist eines von 60, die auf der Sei­te des Deut­schen Medi­zin­his­to­ri­schen Muse­ums gezeigt und erklärt werden.

Das Fazit der Autorin­nen bleibt ste­hen bei der Beob­ach­tung, daß es auch heu­te zu Ver­schwö­rungs­theo­rien kommt und Fehl­in­for­ma­tio­nen eine bereits gespal­te­ne Gesell­schaft ver­un­si­chern und wei­ter pola­ri­sie­ren. Es fehlt eine Ana­ly­se der Spal­tung eben­so wie die, wo die Fehl­in­for­ma­tio­nen entstehen.

Ver­un­si­che­rung bezüg­lich der wirt­schaft­li­chen Exis­tenz gibt es spä­tes­tens seit der Ban­ken­kri­se. Wie damals machen vie­le Men­schen nun erneut die Erfah­rung, daß rie­si­ge Geld­sum­men auf­ge­wen­det wer­den, um Ban­ken und Kon­zer­ne zu stüt­zen, die als "sys­tem­re­le­vant" defi­niert wer­den, wäh­rend gleich­zei­tig Arbeits­plät­ze und mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men hops gehen. Wie 1884 muß das Miß­trau­en wach­sen, wenn dann noch bekannt wird, daß über die gigan­ti­sche Umver­tei­lung von unten nach oben hin­aus das Regie­rungs­per­so­nal sich ille­gal bereichert.

Es sind heu­te nicht die offen­kun­dig Armen, die rebel­lie­ren. Viel­mehr dürf­te es vor allem Ange­hö­ri­ge des "Klein­bür­ger­tums" auf die Stra­ße trei­ben, Men­schen, die noch nicht alles ver­lo­ren, aber viel zu ver­lie­ren haben. Ein guter Teil der fest­an­ge­stellt Arbei­ten­den kann über Kurz­ar­bei­ter­geld ruhig gestellt wer­den und sich ein­re­den, von den Maß­nah­men nicht so sehr betrof­fen zu sein. Kin­der und Obdach­lo­se, inof­fi­zi­ell und pre­kär Arbei­ten­de haben kei­ne Lob­by, die gehört wird. Die Ver­elen­dung der Klein­be­trie­be und des Kul­tur­be­triebs geschieht fast rei­bungs­los, auch weil vie­le dort Täti­ge mei­nen, mit immer wie­der neu­en "Hygie­ne­kon­zep­ten" oder der Hoff­nung auf Tests oder Imp­fun­gen über die Run­den zu kommen.

Ana­ly­sen zei­gen seit lan­gem, wie Coro­na welt­weit die gesell­schaft­li­chen Wider­sprü­che ver­schärft, Rei­che wer­den rei­cher, Arme ärmer. Die einen kön­nen sich ins Home Office der gro­ßen Woh­nung zurück­zie­hen, die ande­ren drän­geln sich zu Hau­se ohne jeg­li­che Mög­lich­keit, den all­hei­len­den Abstand zu halten.

Fehl­in­for­ma­tio­nen wer­den zwei­fel­los über suspek­te Kanä­le im Netz ver­brei­tet. Ihr Aus­maß ist gewiß klei­ner als das der in inhalt­lich nahe­zu gleich­ge­schal­te­ten Mas­sen­me­di­en ange­bo­te­nen. Nicht zuletzt das führt zu einer zuneh­mend tie­fe­ren Glaub­wür­dig­keits­kri­se der Regierenden.

Wir wer­den kei­ne Sze­nen erle­ben wie 1884 in Nea­pel. Die Bru­ta­li­tät aber, mit der an vie­len Stel­len gegen fei­ern­de Jugend­li­che, rodeln­de Fami­li­en und demons­trie­ren­de Men­schen vor­ge­gan­gen wird, wird auch dem­nächst zu uner­freu­li­chen, oft­mals über­haupt nicht poli­tisch moti­vier­ten, Aus­brü­chen von Unmut füh­ren, soll­te die Poli­tik nicht umsteuern.

9 Antworten auf „Proteste gegen die obrigkeitliche Seuchenbekämpfung“

  1. "Fehl­in­for­ma­tio­nen sind in Seu­chen­zei­ten beson­ders gefährlich"

    Und Fehl­in­for­ma­tio­nen wach­sen auf die­sem Nähr­bo­den beson­ders gut:
    "Auf der ande­ren Sei­te der sozia­len Sche­re gab es eine rei­che Ober­schicht, die sich ein­fluss­rei­che Ämter zuschanz­te, ohne über ent­spre­chen­de Qua­li­fi­ka­tio­nen zu ver­fü­gen. Die medi­zi­ni­sche Betreu­ung lag in den Hän­den arro­gan­ter Ärz­te, die sich vom ein­fa­chen Volk distanzierten. "

    Des­halb sind arro­gan­te Kom­mu­ni­ka­ti­on und auto­ri­tä­res Han­deln in Seu­chen­zei­ten beson­ders gefährlich.

  2. Cholera in Neapel
    :
    Fatale Rücksicht auf Touristen
    Von Thomas von Randow
    14. September 1973, 8:00 Uhr
    AUS DER
    ZEIT NR. 37/1973

    Die Neapolitaner sind der Meinung, daß sie die gegenwärtig in ihrer Stadt wütende Cholera den Touristen zu verdanken haben – und vermutlich haben sie recht. Nicht, daß die aus aller Welt zur Erholung in die Stadt oder ihre Umgebung Herbeigereisten etwa die Krankheit eingeschleppt hätten; nein, der Ursprung der "Arme-Leute-Seuche" ist fraglos in der unzureichenden Abwasser- und Abfallbeseitigung zu finden, die geradezu Brutstätten für den Cholera-Erreger, den Bazillus Vibrio cholerae, hat entstehen lassen. Doch der Tourismus hat dennoch etwas damit zu tun. Die Regierung nämlich ließ aus Sorge, sie könne die geldbringenden Ausländer aus der sonnigen Stadt vertreiben, fast eine Woche verstreichen, ehe sie die notwendigen Vorkehrungen traf, um der Ausbreitung des Gallenbrechdurchfalls (so der deutsche Name der Krankheit) Einhalt zu gebieten.

    Die sich bei fehlenden Schutzvorkehrungen – Isolierung der Kranken und aller Kontaktpersonen, Desinfizierung von Abfall und Abwasser – äußerst rasch ausbreitende Infektionskrankheit ist auch heute, im Zeitalter der Antibiotika, noch eine äußerst gefährliche Krankheit. Die sehr beweglichen, kommaförmigen Keime, die von den kranken, aber auch von nicht erkrankten Bazillenträgern ausgeschieden werden, vermehren sich schnell. Vom Menschen zum Beispiel mit der Nahrung oder dem Trinkwasser aufgenommen, geraten die Bazillen in den Dünndarm, wo sie massenhaft zugrunde gehen und dabei ihr zelleigenes Gift freisetzen, das die Krankheitssymptome, Erbrechen und Durchfall, hervorruft. Der Körper verliert dabei erhebliche Mengen von Flüssigkeit und die darin gelösten, lebenswichtigen Salze; er trocknet förmlich aus.

    Dem Vibrio cholerae ist chemotherapeutisch nicht beizukommen. So bleibt dem Arzt nur die Möglichkeit, dem Organismus über die Blutwege die verlorenen Flüssigkeiten und Salze zu ersetzen, den Patienten warm zu halten und im übrigen abzuwarten, bis die Wirkung des bakteriellen Giftes abgeklungen ist. Bei rechtzeitigem Beginn dieser Behandlung sind die Überlebenschancen durchaus gut.

    Einen – freilich nicht sicheren – Infektionsschutz gewährt die Cholera-Impfung, deren Wirkung allerdings nur sechs Monate anhält. Indes verhindert diese Injektion mit abgetöteten Vibrionen nicht, daß die geimpfte Person, auch wenn sie selbst nicht an Cholera erkrankt, zum Bazillenträger wird. Die Impfung also ist für die Eindämmung einer Cholera-Epidemie bedeutungslos. Diese Erkenntnis hat denn auch vor einigen Monaten die Weltgesundheitsorganisation dazu veranlaßt, den Ländern, die bislang von Einreisenden den Nachweis einer Cholera-Schutzimpfung verlangten, zu empfehlen, diese Bestimmung aufzuheben.

    Dem Reisenden aber, der sich in ein Cholera-Gebiet, gegenwärtig also auch nach Süditalien, begibt, ist dennoch dringend zu raten, sich vorher gegen Cholera impfen zu lassen. Sein Risiko, der schnellen Seuche zum Opfer zu fallen, wird dadurch erheblich herabgesetzt.

    Mit großer Wahrscheinlichkeit wird irgendein rückkehrender Italien-Urlauber die Krankheit in die Bundesrepublik einschleppen. Doch rechnet hier niemand mit einer Cholera-Epidemie. Die hygienischen Verhältnisse in Deutschland bieten dem auf den Transport über die Ausscheidungen angewiesenen Bazillus keine hinreichende Verbreitungsmöglichkeit.

    Thomas von Randow
    https://www.zeit.de/1973/37/fatale-ruecksicht-auf-touristen

    😉

    Zur Gegenüberstellung empfohlen ....

  3. "Wir wer­den kei­ne Sze­nen erle­ben wie 1884 in Neapel."
    Nein? Wahr­schein­lich nicht. Sicher bin ich mir da nicht.

    Den letz­ten Satz Ihres Arti­kels emp­fin­de ich aber umso beängstigender.
    Sie glau­ben doch nicht im Ernst, dass die­se Poli­ti­ker umsteu­ern werden?
    Und wohin bit­te, sol­len sie steuern?
    In mei­nen Augen sind das Psychopathen.
    Und Psy­cho­pa­then sind in kei­ner­lei Hin­sicht fähig, Feh­ler einzusehen.
    Was braucht es noch, um das zu erkennen?
    Poli­zei und Bun­des­wehr­ein­sät­ze gegen die Bevölkerung?
    Sei­en Sie beru­higt, dem­nächst in die­sem Theater.

  4. Das Mez­zo­gior­no war der Unru­he­herd auf der für Unru­hen ohne­hin berüch­tig­ten ita­lie­ni­schen Halb­in­sel. Micha­el Baku­nin sie­del­te aus eben die­sem Grund – weil er das revo­lu­tio­nä­re Poten­ti­al – viel höher ein­schätz­te als in Flo­renz, nach Nea­pel über.

  5. "Sie befürch­te­ten, dass ihre kran­ken Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen nicht mehr lebend aus den Kran­ken­häu­sern zurück­kom­men würden"

    Ich den­ke mal, das Volk sah das ganz realistisch.

  6. @aa
    dan­ke fürs auf­grei­fen und ihre les­art und aus­füh­run­gen. mir bleibt ein scha­les gefühl nach der lek­tü­re all die­ser erklä­run­gen auf der muse­ums­sei­te, die ja an sich wert­vol­le quel­len, fak­ten und bild­ma­te­ri­al lie­fern. und ich habe noch­mal ganz ande­re zusam­men­hän­ge gese­hen auf der sym­bo­li­schen, sozia­len und poli­ti­schen ebe­ne, und zwar genau durch das, was die "erklä­run­gen" auf der web­site NICHT sagen.
    danke!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.