Im Mai 2020 durfte im "Tagesspiegel" noch ein Gastbeitrag erscheinen mit dem Titel "25.100 Tote und kaum Aufmerksamkeit. Auch bei der Grippewelle 2017 hätten die Medien Alarm schlagen müssen!". Dort heißt es:
»… Tatsächlich haben wir es mit einer ignorierten Katastrophe zu tun: 25.100 Menschen sind der Grippewelle 2017/2018 zum Opfer gefallen, und kaum einer hat es bemerkt.
Rekord an Arztbesuchen
Sicher: Es gab eine Grippewelle, und die Zahl der Arztbesuche erreichte einen Rekordwert. Noch nie seit Einführung des Infektionsschutzgesetzes 2001 war die Zahl der Erkrankungen so groß. Das war auch Thema in den Medien. Im Frühjahr 2018 war sogar vereinzelt von einer Überforderung der Krankenhäuser die Rede.
Aber Medizin und Behörden waren sich sicher, dass es eine gewisse Immunität in der Bevölkerung gebe, und es waren ja auch viele gegen Grippe geimpft. Allerdings mit einem relativ wirkungslosen Dreifachimpfstoff, wo ein Vierfachimpfstoff weit besser geschützt hätte.
Doch nirgends ertönte ein Signal angesichts erhöhter Sterbeziffern – nicht aus Pflegeheim oder Krankenhaus, nicht beim Gesundheitsamt und auch nicht bei einem Whistleblower, einem anonymen Informanten. Keine Redaktion fragte nach, kein Medium wunderte sich.
Und so blieb alles ganz normal: Kein Lokal wurde geschlossen, keine Schule dicht gemacht und nirgendwo die Produktion runtergefahren. Altenheime durften besucht und Feten gefeiert werden. Niemand stellte die Frage, ob die Intensivbetten ausreichen und die Beatmungsgeräte intakt sind. Das öffentliche Leben blieb unberührt.
Das Abstrakte muss konkret werden
Kein Wunder. Denn die Ausmaße der Grippewelle 2017/2018 wurden erst viel später bekannt. Es gab keine Bilder aufgereihter Särge und keine Berichte verzweifelter Ärzte wie aus Bergamo und New York. Es sind aber solche Bilder und Berichte, die eine abstrakte Bedrohung konkret machen.
Auch die Grippewelle 2017/2018 war sehr konkret, ihre Dimension wurde aber erst öffentlich, als sie längst vorbei war: Im September 2018 teilte das Robert-Koch-Institut (RKI) mit, dass die Welle „außergewöhnlich schwer gewesen“ sei. Und schätzte die Zahl der Todesfälle allein für Berlin auf 1.100 – mehr als das Zehnfache der Hongkong-Grippe!
Die Gesamtabrechnung erfolgte erst ein Jahr später, im September 2019. Und da war dann erstmals von jenen deutschlandweit 25.100 Toten die Rede, über die jetzt gesprochen wird. Die Pressemitteilung des RKI unter der Überschrift „Pommes für die Grippeschutzimpfung? Neuer Influenza-Saisonbericht erschienen“ war auch nicht dazu angetan, in den Redaktionen besondere Aufmerksamkeit zu generieren.
Die Medien hätten Alarm schlagen müssen
Weiteres Manko: Die Zahl ist eine Schätzung: Das RKI kalkuliert alljährlich, wie viele Menschen normalerweise – ohne Influenza – sterben würden und kommt dann mit einer Zahl für die „Übersterblichkeit“ heraus.
Hätten die Influenza-Toten von 2017/18 überleben können? Bestimmt nicht alle. Auch sie waren zumeist alt, krank und schwach. Aber wenn die Medien rechtzeitig Alarm geschlagen hätten, hätte es ein intensiveres Nachdenken über Quarantäne für Altenheime, Maskentragen im Nahverkehr und Hygiene im Alltag gegeben.
So aber starben zu viele zu früh. Als Todesursache wurde oftmals nicht Grippe vermerkt, sondern Herzversagen. Aber vielleicht war es das Herzversagen einer Gesellschaft, die nicht anständig informiert war über die Risiken und Nebenwirkungen einer Grippewelle.«
(Hervorhebungen nicht im Original.)