Wissenschafts-Blockwart bei der FAZ

Der sich selbst als Wissenschaftsjournalist ver­ste­hen­de Joachim Müller-Jung stellt am 7.10. in der Druckausgabe der FAZ die Frage "Hat die Wissenschaftsberichterstattung tota­li­tä­re und anti­de­mo­kra­ti­sche Züge ange­nom­men in der Pandemie?" Wie nicht anders zu erwar­ten folgt:

»Die kur­ze Antwort… lau­tet: Der Eindruck täuscht. So wenig wie die Virologie oder die Epidemiologie und die kli­ni­schen Disziplinen eine geschlos­se­ne Gesellschaft gewor­den sind, aus­weis­lich Zehntausender frei zugäng­li­cher Covid-19-Publikationen und ihrer Begutachtungen (zu John Ioannidis sie­he F.A.Z. vom 6. Oktober), so wenig schot­tet sich der Wissenschaftsjournalismus gegen kri­ti­sche Stimmen ab.«

Der genann­te, auch von ihm ver­faß­te, Artikel ist ein ein­zi­ger Beweis dafür, daß Müller-Jung lügt. Er ist gera­de­zu ein Musterbeispiel dafür, wie kri­ti­sche Stimmen lächer­lich gemacht, ja kri­mi­na­li­siert wer­den. Dort ist zu lesen:

»Mit den Grippe-Vergleichen hat die syste­ma­ti­sche Verharmlosung von Covid-19 begon­nen, und mit ähn­li­chen Vergleichen – ob Hitzewellen-Tote oder Verkehrsopfer – wer­den die Kampagnen gegen Corona-Maßnahmen wei­ter befeuert. 

Immer wie­der hört man den Euphemismus unver­stellt, dann wird über die "harm­lo­se" Grippe schwa­dro­niert, als wären die Zehntausende Toten, die Influenza-Viren jähr­lich zum Opfer fal­len, not­wen­di­ge Menschen­opfer. Wissenschaftlich auf­recht­erhal­ten las­sen sich sol­che Vergleiche nur noch, wenn man wie der Frankfurter Gesundheitsamtschef René Gottschalk ein­zel­ne Zahlenkolonnen der Sterbestatistiken nimmt und ent­schei­den­de Kontexte unter­schlägt. Wie gefähr­lich das neue Coronavirus ist, lässt sich so jeden­falls nicht beant­wor­ten, da gibt es bei sorg­fäl­tig arbei­ten­den Wissenschaftlern kei­ne zwei Meinungen mehr.

Ein mah­nen­des Beispiel ist der Hype um den ame­ri­ka­nisch-grie­chi­schen Epidemiologen John Ioannidis von der Stanford-Universität. Schon im Frühjahr mel­de­te er sich mit Mahnungen vor unbe­wie­se­nen Übertreibungen und mit Publikationen zur mut­maß­li­chen Tödlichkeit von Sars-CoV‑2 zu Wort – mit dem unbe­grün­de­ten Vergleich, die Gefahr durch Covid-19 sei für die mei­sten Menschen etwa so nied­rig, wie mor­gens auf dem Weg zur Arbeit bei einem Verkehrsunfall zu ster­ben. Ioannidis ist eine Art Kultfigur. Berühmt gewor­den ist er als kri­ti­scher Metaforscher mit der Analyse "Warum die mei­ste ver­öf­fent­lich­te Forschung falsch ist".

Platz 4 der wich­tig­sten "Anlässe für Massensterben"
Seine Covid-19-Sterblichkeitsstudien, die nur im Preprint vor­la­gen, fie­len bis­her indes durch jede Begutachtung, das Urteil der Kollegen war mit­lei­dig bis ver­nich­tend. Methodisch unter­lie­fen Ioannidis die glei­chen Fehler, die er jah­re­lang zu Generalattacken auf das System nutz­te. Dazu hat sich die Debattenlage auch bei sei­nem Publikum geän­dert: Covid-19 wird schon jetzt mit bis­her mehr als zwei­hun­dert­tau­send doku­men­tier­ten ame­ri­ka­ni­schen Todesopfern nach der Spanischen Grippe mit 675.000 Toten, dem Bürgerkrieg mit 618.200 Toten und dem Zweiten Weltkrieg mit 418.500 Opfern auf Platz vier der wich­tig­sten "Anlässe für Massensterben" in den Statistiken geführt.«

Wesentlich aus­sa­ge­fä­hi­ger als die Studien von Ionnidis, "die nur im Preprint vor­la­gen", ist für den Autor eine ande­re. Nach dem Verständnis des Wissenschaftsjournalisten beschäf­tigt sie sich mit

»… der "Infektionssterberate", kurz IFR. In ihr wer­den die doku­men­tier­ten Covid-19-Toten zu der Zahl mög­lichst aller Infizierter ins Verhältnis gesetzt.«

Er beschreibt sie so:

»Von den bis­he­ri­gen Antikörper-Studien sind die wenig­sten zur Berechnung der IFR brauch­bar, wie jetzt in einer der besten und aus­sa­ge­kräf­tig­sten (wenn auch noch nicht offi­zi­ell begut­ach­te­ten) syste­ma­ti­schen Auswertungen von ame­ri­ka­ni­schen Forschern rund um Andrew Levin vom Dartmouth College dar­ge­legt wur­de. Von 1145 unter­such­ten Studien welt­weit waren nur zwei Dutzend aus ver­schie­de­nen OECD-Ländern übrig geblie­ben (kei­ne deut­sche Studie), die den stren­gen Auswahlkriterien standhielten.

Sterberisiko steigt stark ab 55 Lebensjahren
Das Ergebnis der Metastudie ist ein­deu­tig: "Das Sterberisiko für Kinder und jun­ge Erwachsene ist gering, gefähr­lich ist das Virus für Menschen mitt­le­ren Alters und extrem gefähr­lich für älte­re Menschen."«

Eine extrem redu­zier­te Metastudie, die kei­ne deut­schen Daten beinhal­tet, kommt zu einem ein­deu­ti­gen Ergebnis. Und das ist der­ar­tig banal, das es bei jeder belie­bi­gen Straßenumfrage auch von stark alko­ho­li­sier­ten Mitmenschen for­mu­liert wer­den kann.

»Noch einen Vergleich lie­ßen sich die Wissenschaftler nicht neh­men, um auch die Analyse von Ioannidis end­gül­tig ad absur­dum zu füh­ren: Das Risiko eines 55 bis 64 Jahre alten Berufspendlers (in England wohl­ge­merkt), an Covid-19 zu ster­ben, sei in die­sem Jahr zwei­hun­dert­mal so groß, wie bei einem Verkehrsunfall töd­lich zu verunglücken.«

Wohlgemerkt.


Doch zurück zum Beitrag vom 7.10. Wir waren ste­hen­ge­blie­ben bei Müller-Jungs Beobachtung, kri­ti­sche Stimmen kämen aus­rei­chend zu Wort. Weiter heißt es:

»Noch nie war ange­sichts der gras­sie­ren­den Unsicherheiten mit Blick auf den Pandemieverlauf die Offenheit so groß. Viel hilft aber nicht unbe­dingt viel.… Nicht das Formulieren von ver­meint­lich Wahrem beschäf­tigt die Medien, son­dern die Selektion von mut­maß­lich Unwahrem und (auf­grund metho­di­scher Schwächen) Überflüssigem.«

Das ist faschi­sto­id bis hin zur Wortwahl. Und es ist kein Ausrutscher. Der Wissenschafts-Blockwart fährt fort:

»Die Aufgabe des Wissenschaftsvermittlers und ‑kri­ti­kers muss also gera­de­zu dar­in bestehen,… "ande­re Meinungen nicht zur Sprache kom­men zu las­sen". Meinungspluralismus ist wert­voll, so wie jedes Ergebnis zählt – zumin­dest bis zur Falsifikation, um bei Popper zu blei­ben. Aber auf­klä­re­ri­scher Pluralismus bedeu­tet nicht, jede Minderheiten­meinung gleich­wer­tig zu behan­deln – solan­ge nicht beson­de­re und nach­voll­zieh­ba­re Beweise vor­lie­gen, mit denen das müh­sam auf­ge­bau­te (oder sich abzeich­nen­de) wis­sen­schaft­li­che Mehrheitsvotum in Frage zu stel­len ist… Natürlich gibt es kein Grundrecht auf Aufmerksamkeit, nicht an freie, unab­hän­gi­ge Medien gerich­tet und schon gar nicht wider bes­se­res Wissen auf Seiten der Journalisten. Es gibt sie auch dann nicht, wenn die Echokammern der sozia­len Medien über­quel­len mit Behauptungen. Oder gera­de dann: Qualitätsmängel sind im Netz kein Ausschlusskriterium, hier darf jeder Experte sein. Der Psychoterror der Desinformation aber, die in der Pandemie selbst epi­de­mi­sche Ausmaße ange­nom­men hat, läßt sich nur dadurch ein­däm­men, daß die pre­kä­re Auslese auf die Spitze getrie­ben wird.«

Man muß fürch­ten, daß Galileo Galilei beim Inquisitionsprozeß der katho­li­schen Kirche nicht mit Berufsverbot und 10-jäh­ri­gem Hausarrest davon­ge­kom­men wäre, wenn Müller-Jung im Entscheidungsgremium hät­te sit­zen dürfen.

(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)

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