Am 28.5. erinnerte die Tagesschau an die Bilder, die unser alle Verhalten zur Corona geprägt haben. Sie stammen aus der Stadt Nembro in Bergamo. Aus dem Bericht geht auch hervor: Der massenhafte Tod hatte mindestens zwei Ursachen, das Virus und die jahrelange kriminelle Gesundheitspolitik der dort regierenden Rechten.
»Es waren Bilder wie im Krieg: Militärtransporter voller Särge, Intensivstationen, auf denen Ärzte entscheiden mussten, wer stirbt…
Die Stadt mit 11.500 Einwohnern in der Provinz Bergamo gilt als ein Epizentrum der Corona-Krise in Norditalien…
Salvatore Mazzola trägt wie alle in Nembro eine Maske. Nur die Tränen in seinen Augen verraten, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht hat. "Mein Vater ist gestorben. Nach neun Tagen. Wir haben um Hilfe gebeten. Aber niemand kam." Der Bäcker und Café-Betreiber ist wütend. Wie konnte es dazu kommen, dass sein Vater neun Tage auf eine Behandlung warten musste – bis seine Lunge irreparabel beschädigt war? Warum kam kein Arzt rechtzeitig zu ihm nach Hause? "Unser Gesundheitssystem ist zusammengebrochen", sagt er. "Der Fehler war, dass sie den Leuten erst ganz am Ende geholfen haben – als sie schon gar keine Luft mehr bekamen und die Lungen schwer angegriffen waren."…
"Zwei Lektionen müssen gelernt werden: Das Personal in Krankenhäusern, in Pflegeheimen und Hausarztpraxen hätte durchgetestet und die asymptomatisch Positiven hätten sofort isoliert werden müssen." Doch das geschah zunächst nicht. "Diese Tatsache und die am Anfang fehlende Schutzkleidung führten zu ihrem Tod", schreiben auch drei Ärzte des Krankenhauses Papa Giovanni XXIII in Bergamo in einer Untersuchung.«
Es folgt eine merkwürdig interpretierte Studie der Charité, auf die unten näher eingegangen wird und nach der es in der Lesart der Tagesschau wesentlich mehr Opfer gab als bisher bekannt. Hier nur der Hinweis, daß der Hauptautor Marco Piccininni Ende 2019 Mitverfasser einer von der Bill & Melinda Gates Stiftung finanzierten Studie über das italienische Gesundheitssystem war. Link und Link.
»Zahlreiche Ursachen für die Katastrophe
Warum ist die Zahl der Toten hier so exorbitant hoch? Der Leiter des Altenheims, Valerio Polloni, macht dafür unter anderem eine Fehlentscheidung der Regionalregierung verantwortlich: Weil viele der Patienten mit abklingenden milden Symptomen anfangs in Alten- und Pflegeheimen untergebracht wurden, habe sich das Virus unter Hochrisikogruppen schnell verbreiten können. Pollonis Vorgänger hatte sich geweigert, diese Entscheidung in seinem Heim umzusetzen. Von den 87 Bewohnern starben dennoch 37. Der frühere langjährige Direktor der Einrichtung und ein Arzt der Einrichtung erlagen dem Virus.
Nach Ansicht des Bürgermeisters von Nembro ist auch die verspätete Schließung seiner Region für die hohen Todeszahlen verantwortlich. "Jeden Abend in der ersten Märzwoche wäre der richtige Zeitpunkt gewesen. Aber wir haben nichts gehört. Ich rief die Präfektur in Bergamo an, und sie sagten, sie warteten auf Anweisungen aus Mailand oder Rom. Die 'rote Zone' hätte ausgerufen werden müssen, sobald unser Nationales Gesundheitsinstitut das Risiko einer Ausbreitung festgestellt hatte." Eine Monitor-Anfrage an die Regionalregierung dazu blieb unbeantwortet…
Nachbarprovinzen nahmen keine Patienten auf
Man hätte Bergamo ganz leicht entlasten können, sagt Rizzi. Im benachbarten Venetien seien viele Intensivbetten frei gewesen. "Selbst in der schlimmsten Phase war es sehr schwer, dort einen Platz für unsere Patienten zu finden." Da habe sicher, mutmaßt Rizzi, die Angst der Nachbarn eine Rolle gespielt, die sich vor einem ähnlichen Notstand fürchteten – und sich abschotteten.«
Da es sich hier um die Tagesschau handelt, kann die Information nicht einfach stehenbleiben (schließlich war der Bericht fälschend überschrieben mit "Noch mehr Todesopfer in Norditalien?" – siehe dazu unten). Sie muß in Meinung(smache) übersetzt werden, und das geht so:
»"Das ist keine normale Grippe"
Claudio Cancelli, Bürgermeister von Nembro, meint: "Das ist keine normale Grippe, keine saisonale Erkrankung gewesen." Cancelli ist studierter Physiker… Keine Region in Europa wurde so früh und so heftig vom Coronavirus getroffen wie die Lombardei. Mehr als 15.000 Menschen sind hier schon gestorben. Nembros Bürgermeister Cancelli appelliert deshalb an die Deutschen vorsichtig zu sein. "Man darf das Virus nicht unterschätzen und zu spät reagieren, sonst passieren solche Dramen, wie sie uns passiert sind."«
Eine drastischere Schilderung der gesundheitspolitischen Lage bot n‑tv am 23.5.:
»Nur ein Beispiel für das Missmanagement in den Lega-geführten Regionen: In Mailand kennt jeder den Fall der großen Seniorenresidenz "Pio Albergo Trivulzio", in die man noch Anfang März auf Anordnung von Regionalfunktionären "leichte" Covid-19 Fälle verlegt hatte. Als der zuständige Heimarzt dagegen protestierte und dem Pflegepersonal Schutzbekleidung verordnete, wurde er fristlos entlassen, weil er angeblich "Panik stiftete". Heute weiß man, dass fast die Hälfte der Opferzahl in der Region in den Altenheimen und Residenzen vermeldet wurde.
Auch drei Monate nach Beginn der Seuche werden Infektionsketten nicht ordentlich nachverfolgt, müssen Angehörige eines Covid-19-Opfers – wie in Bergamo öffentlich geworden – 500 Euro Gebühren zahlen, um sich testen zu lassen.
Fast jede Familie in der Lombardei hat ein Opfer der Seuche zu beklagen; Tote oder Überlebende, die nun schwerkrank Pflege brauchen. Jeder Vierte als "geheilt" von der Intensivstation entlassene Covid-19 Patient muss in die Dialyse, weil die Nieren versagt haben. Die Lungen sind bei vielen dauerhaft geschädigt. Als "geheilt" entlassen zu sein, ist bei dieser Seuche nicht gleichbedeutend mit gesund sein. Auf Angehörige und das Gesundheitswesen kommt eine Nachwelle Zehntausender Schwerbehinderter zu…
Zu Beginn der Krise aber wollte sich niemand den Verhältnissen in der Lombardei befassen. Der erste Verdacht, den rechtsnationale Medien wie "Libero", "Il Giornale", aber auch das Staatsfernsehen Rai gleich zu Anfang März streuten, stellte die "Musterregion Italiens", mit dem mustergültigen Gesundheitssystem", "von der ganzen Welt bewundert", als Opfer des Auslands dar…
In den Proben von 800 Blutspendern in Mailand fand man nun übrigens bei 4 Prozent dieser gesunden Spender bereits im Januar 2020 Antikörper auf das Virus. Das Virus war also bereits Anfang Januar in der Stadt, zwei Monate bevor es zum großen Ausbruch gekommen ist…
Kliniken als Virenschleudern
Wahr ist dagegen, dass das vermeintlich großartige Gesundheitssystem der Lombardei für den Pandemie-Fall komplett falsch aufgestellt ist, wie es 13 Notärzte des Krankenhauses "Papst Johannes XXIII" von Bergamo in einem offenen Brief schon im März schrieben. "Alleingelassen", gezwungen, Patienten "nur noch palliativ behandeln zu können", "keinen Platz auch für Schwerkranke mehr": Der Zusammenbruch des angeblich so vorbildlichen Systems, trotz des übermenschlichen Einsatzes von Ärzten und Pflegepersonal, so schreiben die 13 Notärzte, liege am System selbst.
Die Katastrophe war eben nicht der von Fontana genannte "Tsunami", die Wasserwelle nach einem Erdbeben unter dem Meer, sondern die Folge menschengemachter Fehlaufstellung. Der Kern des Problems: Das Gesundheitssystem ganz Italiens ist "Krankenhaus-zentriert", ganz besonders in der Lombardei. Jede Art von Diagnostik, alle Spezialisten, arbeiten nur in Großkrankenhäusern. In riesigen Wartesälen wartet man stundenlang auf den Termin, muss zuerst die Zuzahlung leisten, pro Arztbesuch auch schon einmal 150 Euro, um dann wieder in langen Korridoren, immer dicht an dicht gedrängt, vor dem Arztzimmer zu warten. Das Krankenhaus als ideale Virenschleuder. Tatsächlich kam es zu den ersten Massenansteckungen in drei Krankenhäusern der Lombardei: in Nembro, Alzano Lombardo und Codogno.
Allein gelassene Hausärzte
"In dieser Krise rächte es sich, dass man uns Hausärzte, die Versorgung vor Ort, sträflich vernachlässigt hat", meint der Präsident der Hausärzte von Bergamo, Guido Marinoni. "Wir Hausärzte sind aus dem Gesundheitssystem herausgefallen, allein gelassen worden. Wir wurden zu Patienten gerufen, die schwerste Atemprobleme hatten, aber wir hatten keine Schutzausrüstungen. Wir bettelten in der Region um Masken, nichts kam. Wir haben uns im Baumarkt Schutzmasken gekauft, aber das hat bei vielen meiner Kollegen und Kolleginnen nicht gereicht. Von den 630 Hausärzten von Bergamo Stadt und Kreis haben sich 150 mit dem Virus infiziert und 28 sind gestorben."
Es gibt eine direkte Beziehung zwischen der Verfasstheit des lombardischen Gesundheitssystems zu Beginn der Pandemie und der Regionalregierung. Wenige Tage vor dem Virus-Ausbruch sagte der stellvertretende Lega-Vorsitzende Giancarlo Giorgetti, man könne auf die Hausärzte ("medici di famiglia") verzichten, sie seien überflüssig. Die Region setzt mehr als jede andere auf wenige große, die Leistungen konzentrierende öffentliche Kliniken sowie auf privatwirtschaftlich organisierte Häuser, die sich auf finanziell attraktive Behandlungen des Leistungskatalogs konzentrieren.
Dass es auch anders geht, beweist die Nachbarregion Venetien: auch sie unter Leitung eines Lega-Politikers, Luca Zaia. Der aber von Anfang von einem bekannten Virologen, Andrea Crisanti, beraten wurde, massenhaft testen ließ und vor allem in der "roten Zone" von Vo Euganeo 43 Prozent der asymptomatischen Träger entdecken konnte. Ein System ganz konzentriert auf Hausärzte, mit "nur" 1841 offiziell gezählten Covid-19-Opfern. Im Vergleich zum Lega-Parteifreund Fontana aus der Lombardei steht Zaia heute blendend da: Keine neuen Infektionen mehr im Veneto, aber am Donnerstag 316 Neuinfektionen in der Lombardei und 65 Tote.
Privatisierung allenthalben
Von den 114 Milliarden Euro öffentlichen Mitteln, die der staatliche, regional organisierte Gesundheitsdienst pro Jahr ausgibt, geht die Hälfte an private, gewinnorientierte Krankenhäuser. Deren Leistungen aber konzentrieren sich auf teuer abzurechnende Einzelleistungen, sehr viel weniger auf die allgemeine Gesundheitsvorsorge, schon gar nicht auf Notfallmedizin. Von den 5060 Intensivbetten in ganz Italien zu Jahresbeginn gab es weniger als 100 in den Privatkliniken.
Die öffentlichen Krankenhäuser sind die ersten Anlaufstellen für alle Kranken, egal ob ansteckend, oder nicht. Die Vernachlässigung der Versorgung vor Ort, der Hausärzte, der Mangel an dezentraler Facharztversorgung, die Konzentration auf Großkrankenhäuser hat aber auch, das ist eine gerichtsfeste Tatsache, ihren Grund in massiver Korruption. In den Großkrankenhäusern werden große Aufträge vergeben, wenige Personen verschieben da Riesensummen. Kein Korruptionsskandal in der öffentlichen Verwaltung Italiens ohne Krankenhaus-Beteiligung.
Im Februar 2019 trat der langjährige Präsident der Region Lombardei, Roberto Formigoni, nach fast zwei Jahrzehnten im Amt eine fünfjährige Haftstrafe an. Er hatte sich bestechen lassen, um die private Klinikgruppe Maugeri-San Raffaele zu begünstigen.
Zeitungen wie "Libero", die im Besitz von anderen privaten Klinikbetreibern wie der Familie Angelucci sind, stehen nun in vorderster Front, um weiterhin die "Errungenschaften" der lombardischen Medizin zu verteidigen. Der Häftling Formigoni wird dort interviewt und preist "sein" Gesundheitswesen als exzellent. So erweist sich das Gefängnis womöglich als Glücksfall für Formigoni, bewahrt es ihn doch vor einer direkten Begegnung mit Nutzern seines ach so "exzellenten" Gesundheitssystems.«
Wochenlang galten derartige Informationen als Fake News von Corona-Leugnern oder Relativierern. Als eine Ausnahme kann der kaum beachtete Bericht der Süddeutschen Zeitung von Ende März gelten. Dort war damals schon zu lesen:
»Offenbar hat sich die Epidemie aber schon zuvor über einige Zeit hinweg ausgebreitet.
"Die Sache gibt es seit Anfang des Jahres – oder sogar seit Weihnachten"
Don Matteo betont, dass er kein Arzt sei – und dass er deshalb nicht zu weit gehen möchte. Der Vikar von Nembro beschränkt sich deshalb darauf, die Fakten zu schildern, die in seiner Gemeinde für so viel Verwüstung gesorgt haben.
"Wir glauben", sagt er, "dass es diese Sache seit Anfang des Jahres oder sogar seit Weihnachten gibt, ohne dass sie identifiziert wurde. Zunächst hatte das Pflegeheim in Nembro eine wachsende Zahl von anomalen Todesfällen: Im Januar starben zwanzig Menschen an einer Lungenentzündung. Im gesamten letzten Jahr gab es dort nur sieben Todesfälle. Und so schwoll die Zahl der Beerdigungen Woche für Woche an, und alle sprachen von dieser schweren Lungenentzündung. Vor dem Karneval lag die halbe Stadt mit Fieber im Bett. Ich erinnere mich, dass wir, während wir diskutierten, ob wir die Feierlichkeiten und die Parade mit den Kindern abhalten sollten, den 'Hausaufgabenraum' schließen mussten. Denn die meisten Freiwilligen, die die Kinder beaufsichtigten, waren krank. Aber vom Coronavirus war damals in Italien keine Rede. Wer weiß, wie viele von uns schon krank waren und dann wieder gesund wurden."
Don Matteo kümmert sich normalerweise um die jüngeren Mitglieder der Gemeinde. "Nach und nach", berichtet er, "kam alles zum Stillstand. Wir begannen, die Messe auszusetzen. Aber wir kümmerten uns so lange wie möglich um die Kranken, trafen ihre Familien, denn man kann ihnen den Trost nicht verweigern. Wir versuchten, so viel Vorsicht wie möglich walten zu lassen, aber heute bin ich der einzige Priester, der noch gesund ist; die anderen haben alle Fieber. Don Giuseppe ist im Krankenhaus, und auch Don Antonio, der Pfarrer, war krank. Jetzt ist er wieder gesund. Dann begannen wir mit den ersten Beerdigungen derer, die vom Coronavirus befallen wurden. Nur die engste Familie war anwesend. In der ersten Märzwoche begruben wir 14 Personen, während es normalerweise nur zwei sind."
Zur Studie der Charité. Merkwürdig ist zunächst, daß die Tagesschau am 28.5. darauf Bezug nimmt. Sie war bereits am 15.5. bekannt gemacht worden. Der Verdacht liegt nahe, sie konnte zu oben genannter Meinungsmache beitragen.
Was sind die Kernaussagen der Studie? Und wie werden sie präsentiert? Seriös in der Süddeutschen Zeitung:
»Studie analysiert Coronavirus-Ausbruch in Nembro
Am 21. Februar wurde der erste Fall in der Stadt bestätigt, schnell folgten weitere Infektionen. Mitte April war der Ausbruch endlich abgeflaut. Bis dahin musste die Stadt 166 Menschen zu Grabe tragen. 151 von ihnen waren allein im März gestorben, wie Public-Health-Forscher aus Mailand und Berlin im British Medical Journal analysierten. Damit starben in einem einzigen Monat mehr Menschen als sonst in einem gesamten Jahr, es waren fast elfmal so viele wie im März 2019.
Etwa die Hälfte der Gestorbenen hatte eine bestätigte Covid-19-Diagnose. Die Forscher schließen nicht aus, dass auch ein Teil der anderen mit dem Coronavirus infiziert war, aber nicht erfasst wurde, weil es zwischenzeitlich an Kapazitäten für die Entnahme und Auswertung der Tests mangelte. Möglich ist aber auch, dass Menschen an den indirekten Folgen der Pandemie gestorben sind. Die Kliniken der Region waren überfüllt, Schutzausrüstung wurde knapp, Angestellte infizierten sich und fielen in der Krankenversorgung aus, Ärzte und Pflegekräfte standen unter enormem Druck.
Es ist denkbar, dass in dieser Situation nicht mehr alle Patienten optimal versorgt werden konnten. Manche Kranke könnten den Kliniken auch aus Angst ferngeblieben sein…«
Oder wie auf www.gesundheitsstadt-berlin.de, wohin der dirigierende Arm des Instituts eher gelangt.
»Charité Studie: Mehr Pandemie-Tote in Norditalien als gemeldet
Allein im März gab es in einem norditalienischen Ort mehr Tote als im gesamten vergangenen Jahr. Nur rund die Hälfte der jetzt Verstorbenen war jedoch als COVID-19-Todesfall gemeldet. Wissenschaftler der Charité haben diese Diskrepanz aufgedeckt und schließen daraus, dass die Pandemie weit mehr Menschenleben fordert als offiziell bekannt.«
So sehen Fake News aus. Details werden aus dem Zusammenhang gerissen und zu einer neuen Botschaft vermengt. Die Studie stellt nicht etwa fest, es gebe mehr Tote als gemeldet. Sie beschäftigt sich vielmehr damit, daß lediglich die Hälfte als Corona-Tote gilt.
Im Artikel wird obige Nachricht sogleich mit anderen Worten wiederholt und ergänzt:
»Dabei waren in dem 11.500 Einwohner-Städtchen allein im März mehr Menschen gestorben als im gesamten vergangenen Jahr und elf Mal so viele wie im März des Vorjahres. Das fanden Wissenschaftler der Charité in einer Studie heraus, deren Ergebnisse nun im Fachmagazin "The BMJ" veröffentlicht wurden.«
Damit es hängen bleibt, wird noch zwei Mal wiederholt, daß im März elf Mal so viele Tote wie üblich starben. Verblüffend dann die Zusammenfassung des Charité-Experten:
»„Diese sehr massive Erhöhung der Sterberate im März 2020 können wir vor dem Hintergrund der sonst sehr stabilen Gesamtsterblichkeit in Nembro nur als Folge der Coronavirus-Pandemie werten“, sagt Marco Piccininni, Wissenschaftler am IPH und Erstautor der Studie.«
Es folgt die erneute Benennung der Zahl der Toten und die Frage
»Wie erklärt sich diese Diskrepanz? Die Wissenschaftler vermuten zum einen, dass nicht alle Coronavirus-Infizierten identifiziert wurden – etwa weil das Testmaterial knapp war und nicht alle Verdachtsfälle labordiagnostisch getestet wurden. Ein zweiter Grund könnte darin liegen, dass Menschen mit anderen Erkrankungen schlechteren Zugang zur Krankenversorgung hatten: entweder weil die Kapazität des Gesundheitssystems schon durch COVID-19-Fälle ausgeschöpft war oder weil sie aus Sorge vor einer Infektion das Krankenhaus nicht aufsuchen wollten.«
Fragen sind angebracht, diesmal an die von der Charité veröffentlichte Mitteilung.
1. Was ist der Zweck der Studie? Vermutlich gibt die Schlußbemerkung die Antwort:
»„Für eine präzise Abschätzung der gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie dürfen wir also nicht ausschließlich auf die bestätigten COVID-19-Sterbezahlen schauen“, betont Prof. Kurth. „Um vor Ort die geltenden Eindämmungsmaßnahmen besser an die Situation anpassen zu können, sollten zusätzlich aktuelle Daten zur regionalen Gesamtsterblichkeit berücksichtigt werden. Leider sind Daten zur Gesamtsterblichkeit nicht überall zeitnah abrufbar. Ich begrüße, dass vorläufige Daten für Deutschland seit Kurzem zur Verfügung stehen.“«
Man kann das so lesen: Um an den Eindämmungsmaßnahmen festhalten zu können, reichen die Corona-Toten nicht mehr aus. Jedenfalls ist in der Studie nichts von einer Hilfestellung für das italienische Gesundheitssystem in der Region zu finden.
2. Wie sauber sind die Zahlen? Wir finden in zwei aufeinanderfolgenden Absätzen diese Angaben: Es "starben in den dreieinhalb Monaten zwischen dem 1. Januar 2020 und 11. April 2020 in Nembro 194 Personen" und "Von den während der Infektionswelle (Ende Februar bis Anfang April) gestorbenen 166 Menschen waren aber nur 85 positiv auf das Coronavirus getestet und offiziell als COVID-19-Todesfälle gemeldet worden." Warum wird einmal als Ausgangsbasis der 1.1., ein anderes Mal Ende Februar verwendet? Und wie vertragen sich die Daten mit der Information am Schluß der Mitteilung, wonach es zwischen dem 8. März und dem 16. April 85 Tote gab? Zu der Zeit war die Stadt eine "Rote Zone", die weder verlassen noch betreten werden durfte. Wenn somit vom 1.1. bis zum 11.4. 194 Menschen starben, davon zwischen dem 8.3 und dem 16.4 "nur" 85 – wie sind dann die 109 Verstorbenen vor dieser Zeit zu erklären?
Für das Weitere ist ein Blick in die Originalveröffentlichung im British Medical Journal nötig. (Übersetzung aus dem Englischen mit Hilfe von translate.google.com)
3. Wie verträgt sich folgende Aussage mit den u.a. oben zitierten Medienberichten? (Vielleicht eine dumme Frage angesichts der oben genannten BMGS-Connection)
»Das Gesundheitssystem in der Lombardei ist durch hohe Standards und ausreichende Ressourcen gekennzeichnet. Mehr als 200 akkreditierte Krankenhäuser beschäftigen etwa 130 000 qualifizierte Gesundheitsarbeiter. In dieser Region betrug die Kapazität der Intensivstationen vor der Pandemie etwa 720 Betten (normalerweise mit einer Auslastung von 85–90% im Winter).«
4. Bewegt sich der Umfang der genutzten Schätzungen in einem gesicherten Bereich?
Mangels ausreichender Daten »haben wir die Anzahl der Einwohner über den gesamten Untersuchungszeitraum (1. Januar 2012 bis 11. April 2020) geschätzt… Wir haben auch die monatlichen Sterblichkeitsraten unter dem hypothetischen Szenario eines starken Rückgangs der beitragenden Personenjahre in den letzten Monaten des Studienzeitraums geschätzt… Wir haben monatlich alle Ursachensterblichkeitsraten berechnet, indem wir die Anzahl der Todesfälle durch die geschätzte Anzahl der Personenjahre dividiert haben.«
5. Bemerkenswert im Zusammenhang mit den seinerzeitigen Horrorberichten über sterbende junge Menschen auf den Intensivstationen ist diese Bemerkung, die wiederum die Frage aufkommen läßt, welchen Anteil das Virus hatte und welchen der katastrophale Umgang mit alten Menschen:
»Von den 161 Menschen, die in diesem Zeitraum starben, war keiner 14 Jahre oder jünger und 14 (8,7%) waren zwischen 15 und 64 Jahre alt.«
6. Aufhorchen läßt diese Feststellung:
»Die Quelle für bestätigte Todesfälle durch Covid-19 ist nicht offiziell und enthält nicht das Todesdatum, sondern das Datum, an dem das Labor die biologische Probe erhalten hat. Dies bedeutet, dass die Anzahl der in unserer Studie gemeldeten bestätigten Covid-19-Todesfälle wahrscheinlich geringfügig höher ist als die offizielle Anzahl im gleichen Zeitraum, da wir die Todesfälle derjenigen einbezogen haben, die möglicherweise nach dem 11. April gestorben sind (obwohl ihre Stichprobe früher an das Labor gesendet wurde). Darüber hinaus wissen wir, dass diese verstorbenen Personen positiv auf Covid-19 getestet wurden, aber wir können nicht absolut sicher sein, ob die Krankheit eine Todesursache war. Dies bedeutet, dass der Unterschied zwischen Covid-19-spezifischen Todesfällen und der Zunahme aller Todesfälle noch extremer sein könnte.«
7. Die Forscher kommen zu möglichen Erklärungen, die vor allem dem Gesundheitssystem eine miserable Zensur ausstellen:
»Erstens werden Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 im Allgemeinen als solche gezählt, wenn Menschen positiv auf die Krankheit getestet werden. Angesichts der höheren Todesrate von Covid-19 bei älteren Menschen mit Komorbiditäten sowie des Mangels an Gesundheitsressourcen wurden viele, die tatsächlich an Covid-19 starben, wahrscheinlich nie getestet. Daher wurde die Todesursache bei diesen Menschen falsch klassifiziert. Zum Beispiel verhinderte ein Mangel an Tests die Beurteilung von Covid-19 bei Menschen mit Symptomen und bestätigten Kontakten in Nembro.
Eine zweite Erklärung für die Nichtübereinstimmung zwischen diesen beiden Todesraten könnte in der Gruppe liegen, die kein Covid-19, aber andere schwerwiegende Erkrankungen hatte und an Ursachen starb, die indirekt mit Covid-19 zusammenhängen. Während dieses Zeitraums hatte diese Gruppe möglicherweise einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung aufgrund von Kapazitätsengpässen, begrenzten Humanressourcen für einen so großen Patientenzustrom (10% der Patienten mit bestätigtem Covid-19 in Italien arbeiteten im Gesundheitswesen) oder der Angst, ein Krankenhaus während der Pandemie aufzusuchen. In Nembro waren Anzeichen für eine Belastung des Gesundheitssystems und logistische Herausforderungen erkennbar. In einem kürzlich erschienenen Artikel werden die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Gesundheitssystems der Provinz beschrieben, selbst grundlegende Gesundheitsdienstleistungen zu erbringen.
Drittens könnte die bekannte Verzögerung zwischen der Verwaltung und Verarbeitung des Tests und der Verfügbarkeit von Ergebnissen, insbesondere in überlasteten Umgebungen, diesen Unterschied verschärft haben.«
»Unsere Ergebnisse beschreiben die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Gesundheit einer kleinen Gemeinde. In größerem Maßstab wäre die Folge eines unkontrollierten SARS-CoV-2-Ausbruchs in Italien der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, was sich wiederum erheblich negativ auf die Gesundheit der gesamten Bevölkerung auswirken würde. Wir betonen, dass Letalitätsmaße kaum nur als Merkmale der Krankheit zu interpretieren sind, sondern auch von der ständigen Verfügbarkeit und Qualität der Versorgung abhängen. Die Folgen einer Pandemie beschränken sich nicht nur auf Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19, sondern tragen auf indirekte Weise zu den potenziell vermeidbaren Todesfällen bei, die auf die extreme Triage begrenzter Ressourcen in Krisensituationen zurückzuführen sind.
Obwohl das italienische Gesundheitssystem im letzten Jahrzehnt durch eine erhebliche Kürzung der öffentlichen Mittel geschwächt wurde, ist die Gesamtleistung des italienischen Gesundheitssystems im internationalen Vergleich immer noch hoch. Angesichts der beispiellosen Herausforderung durch covid-19 sind die politischen Entscheidungsträger jedoch nur mit der Fähigkeit ausgestattet , soziale Distanzierungsmaßnahmen einzuführen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, schutzbedürftige Gruppen zu schützen und gleichzeitig das Gesundheitssystem zu stärken, um eine qualitativ hochwertige Versorgung für alle Patienten sicherzustellen.«
Bemerkenswerterweise kommen diese politischen Auswertung in den Medien eher am Rande vor.