Äußerst vereinfacht gesagt beschreibt Dialektik eine Methode, Gegenstände, Prozesse, Phänomene in ihrer Widersprüchlichkeit zu begreifen. Ebenso vereinfacht kann man den Niedergang der ehemaligen sozialistischen Länder damit beschreiben, daß ihre führenden Personen dieses Denkprinzip nur noch sehr vernachlässigt auf ihre Lebenswirklichkeit angewandt haben.
Ein ähnlicher Prozeß scheint unter dem Eindruck von Corona heute wieder in Gang gesetzt bei vielen, die sich doch eigentlich auf den Marxismus und die ihm wesenseigene Dialektik berufen.
Die "junge Welt" ist die einzige und gar nicht einmal einflußlose Tageszeitung, die sich dieser Tradition verbunden fühlt. Sie beschreibt ihr Selbstverständnis u.a. so:
"Sie unterstützt den Kampf für Alternativen, den Dialog und die Vernetzung zwischen den verschiedenen Strömungen der Linken… Angesichts der Evolution bürgerlicher Staaten zu autoritären Herrschaftsformen setzt sich die junge Welt für die Respektierung und den Erhalt liberaler Rechtsnormen sowie die Einhaltung des Völkerrechts als erste Voraussetzung für Frieden ein. Sie steht auf einer aufklärerischen Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, hohe Qualität, Unterhaltsamkeit und Biß." Link
Was das Blatt in der Corona-Diskussion liefert, ist das Gegenteil davon. Statt "verschiedene Strömungen der Linken" zusammenzuführen, setzt sie auf Ausgrenzung, die an Exkommunikation erinnert. Statt einer "aufklärerischen Position ohne Besserwisserei" finden wir das Absolutsetzen von vermeintlichen Wahrheiten. Ein Beispiel dafür ist ein heutiger Artikel von Felix Bartels, der schon am 22.4. alle Abweichler als Asoziale verurteilen durfte (s. junge Welt hetzt gegen Kritiker). Er schreibt
"Die ersten bemühen schon wieder Grippevergleiche. Die Heinsberg-Studie soll ihrem Sponsorenauftrag gemäß beweisen, dass wir auf bestem Weg zur Herdenimmunität sind. An Stammtischen wie auf Regierungsebene kursiert die Auffassung, dass der Lockdown gar nicht nötig war. Allgemein glaubt man, mit der erstmaligen Senkung des R0-Werts unter 1,0 das Ziel endgültig erreicht zu haben…
Wir hatten eine kurze Phase ostentativer, gewiss andere politische Widersprüche glättender, doch notwendiger Zivilcourage. Wir hatten den Coronakonsens. Jetzt sind wir in den Zustand kollektiver Verdrängung eingetreten. Wissenschaft und Humanität werden durch die Propaganda der Wirtschaftsverbände und das volkstümliche Gefühl derer, die Hegel einst als »Freiheitsgesindel« bezeichnet hat, in die Zange genommen. Diejenigen, die immer bloß sehen, was sie glauben, liefern denen, die immer bloß glauben, was sie sehen, die Argumente. Ohne Studienleiter Hendrik Streeck kein Jakob Augstein. Ohne Wirtschaftslobbyist Michael Hüther kein Armin Laschet…
In der medialen Sphäre bildet Drosten zur Zeit mit Karl Lauterbach, Michael Meyer-Hermann, Mai Thi Nguyen-Kim und wenigen anderen eine Art Kohorte der Vernunft. Sie haben die Zahlen auf ihrer Seite, die Logik allemal, und im Gegensatz zu denen, die ihnen widersprechen, stehen sie nicht im Verdacht, als Lobbyisten wirtschaftlicher Verbände in der Spur zu sein. Niemand hat einen Nutzen vom Lockdown, keine Lobbygruppe, keine Klasse oder soziale Schicht. Nur die Menschen insgesamt, denn es ist allgemein von Vorteil, nicht zu sterben…
Möglich auch, dass Kinder weniger infektiös sind als Erwachsene. Die vom Kapital bestellten Politiker schlagen vor, so zu handeln, als sei das schon sicher nachgewiesen…
Niemand bestreitet, dass ein Lockdown auch hierzulande ein extremer Zustand ist. Lebensentwürfe werden vernichtet, es kommt vermehrt zu Sorgen um den Lebensunterhalt, häuslicher Gewalt, Depressionen und Einsamkeit. Auch deswegen muss das große Ziel die Eindämmung sein. Doch dazu müssen Infektionsherde lokal identifiziert, bei Ausbrüchen bestimmte Gebiete ad hoc abgeriegelt werden können. Wenn die Infektionen überall im Land sind, ist nichts mehr zu machen. Der Lockdown ist in Verbindung mit anderen Maßnahmen – Atemmasken, Tracing-App, extensiven Testungen – das entscheidende Mittel, zur Eindämmung zu kommen." Link
(Hervorhebungen nicht im Original)
Das Muster ist das der Verschwörungstheoretiker. Es wird ein "Die" mit finsteren Plänen konstruiert: Stammtische, ominöse Auftraggeber der Heinsberg-Studie (?!), Wirtschaftsverbände, »Freiheitsgesindel«. Dagegen stehen die, die wissen: Drosten, Lauterbach, die "Kohorte der Vernunft".
Gesetzt wird der Lockdown als alternativlose TINA-Maßnahme. Begründet scheint das zu sein damit, daß niemand, "keine Klasse oder soziale Schicht" einen Nutzen davon habe, "nur die Menschen insgesamt". Angewandte Dialektik würde Alternativen zum Lockdown durchspielen (Japan, Südkorea, Singapur, Schweden). Dabei könnte sich erweisen, daß er in der BRD sinnvoll ist. Hat diese Diskussion in der jW stattgefunden? Nein.
Die vollendete Verabschiedung von dialektischem Denken findet sich in der Formulierung, niemand ziehe daraus Nutzen. Jenseits des Gedankens, der Lockdown sei zur Erzielung dieser Vorteile herbeigeführt, läßt sich doch kaum bestreiten, daß Nutzen und Schaden sehr ungleich in Klassen und sozialen Schichten verteilt sind.
Selbst der Autor nennt Auswirkungen, die in großbürgerlichen Milieus eher weniger wirken als in prekären Schichten. Die Manager von TUI, Lufthansa oder von Automobilkonzernen werden schwerlich die Existenznöte haben wie Leiharbeiter, TafelnutzerInnen, ja viele Angehörige der "Mittelschichten".
Sind die Zusatzprofite von Amazon und anderer Online-Riesen auf Kosten unzähliger kleiner und mittlerer Läden kein Nutzen?
Auch das ist kein Pappenstiel: Die Agentur Scholz & Friends Berlin GmbH erhält 22 Mio. Euro für die Corona-Kampagne des Bundesgesundheitsministeriums. Link
Hat es nicht mit den Überwachungsgelüsten des illiberalen Teils der herrschenden Klasse zu tun, wenn unter dem Eindruck von Corona – selbstverständlich nur für diesen guten Zweck – entsprechende Apps diskutiert werden, in manchen Kreisen durchaus als Zwangsmaßnahme? Das potentielle Bedrohungspotential dieser Apps wird von WissenschaftlerInnen, etwa hier, benannt.
Und dann die Kinder, die die "vom Kapital bestellten Politiker" opfern wollen. Kinderschutzbund, Kinderärzte, Frauenhäuser, Psychologenvereinigungen – alle vom Kapital bestellt? Alle so dumm, den Einsichten des Autors nicht zu folgen?
"Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!", das waren die Leitsprüche des Wahrheitsministeriums bei George Orwell. In diesem Sinne sind die Worte von Bartels zu lesen, der den "Corona-Konsens" als "Zivilcourage" verkaufen will.
Ein Wort noch zu den Vertretern der "Kohorte der Vernunft":
Karl Lauterbach war von Juli 2001 bis Juni 2013 war Mitglied des Aufsichtsrats der Rhön-Klinikum AG. Link Als führender Gesundheitspolitiker der SPD ist er (mitunter kritischer) Mitverantwortlicher des Desasters unseres Gesundheitssystems.
Michael Meyer-Hermann ist seit 2010 Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Link Die Helmholtz-Gemeinschaft ist die Schnittstelle zwischen Spitzenforschung und Großkonzernen. 30 % des jährlichen Etats von 4,8 Mrd. Euro (!) stammen aus Drittmitteln. Link Ihre Institute "haben das Potenzial, zu Leuchttürmen an ihren Zentren wie in der deutschen Transfer-Landschaft zu werden" heißt es im Geschäftsbericht 2017. Link