Und wieder stellt sich ein hochrangiger Experte quer. Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters, übt am 9.10. in einem Interview mit faz.net Kritik. Zwar hält er die Maßnahmen aus dem Frühjahr für gerechtfertigt, meint aber:
»Wir sollten aus der ersten Welle die richtigen Lehren ziehen. Und die richtige Lehre ist, jeden Tag auf die Entwicklung der freien Intensivbetten zu schauen. Nicht nur auf die reine Zahl der Neuinfektionen. Wenn wir also sehen, dass die Zahl der freien Intensivbetten zurückgeht, müssen wir schauen, wie wir die Krankenhäuser vor einer Überlastung bewahren, wenn gleichzeitig die Covid-19-Zahlen hochgehen…
Wir sollten viel differenzierter auf die Gesamtinfektionszahlen schauen. Am Donnerstag wurden gut 4000 Neuinfektionen gemeldet. Nur: Was sagt das aus?
Wir hatten während der ersten Welle ein Durchschnittsalter von etwa 50 Jahren bei den Infizierten. Zuletzt lag es phasenweise aber knapp über 30 Jahren. Die jungen Patienten werden erheblich seltener intensivpflichtig als ältere Patienten. Deswegen ist meine Empfehlung, dass wir uns zwei Zahlen anschauen: Wir sollten einmal die Zahl der Gesamtinfizierten anschauen und zum anderen die Zahl der Infizierten, die mehr als 50 oder 60 Jahre alt sind. Denn das ist die entscheidende Zahl für die Intensivbelegung in den nächsten Wochen. Natürlich haben wir auch viele richtig kranke junge Patienten gesehen. Aber der Großteil der Patienten auf der Intensivstation ist mehr als 50 bis 60 Jahre alt…
Man sieht ja momentan um uns herum in Europa, dass die Fallzahlen hochschießen. Deutschland steht im Vergleich noch gut da. Sind die von der Politik ergriffenen Corona-Maßnahmen momentan in Deutschland also passend?
… Die deutschen Zahlen zeigen, dass wir bisher extrem viel richtig gemacht haben. Ich würde an der ein oder anderen Stelle aber nicht ganz so streng sein, vor allem in Bezug auf die Kinder. Vor uns liegt jetzt ein Marathon. Der geht bis weit in das nächste Jahr hinein. Und wir müssen uns die Zusammenarbeit und Mitarbeit erhalten. Wir brauchen das im Krankenhaus unter den verschiedenen Berufsgruppen. Und genauso muss die Bevölkerung jetzt auch ausreichend motiviert sein, die ganzen Regeln einzuhalten. Dazu gehört in meinen Augen, die Kinder nicht einfach zwei Wochen in Quarantäne zu schicken, wenn auch nur ein einziges Kind in der Klasse positiv getestet worden ist. Da müssen wir einen moderateren Weg finden. Sonst gibt es irgendwann wahnsinnige Probleme innerhalb der Familien. Genauso ist es, wenn einem Kind mal die Nase läuft. Wenn das Kind dann sofort nach Hause muss, stellt das die Eltern vor große Problem…
Wann, glauben Sie, ist der ganze Spuk vorbei?
Der wird uns noch bis weit ins nächste Jahr hinein begleiten. Ich bin aber extrem optimistisch, dass uns die Impfung helfen wird. In dem Moment, wo wir die Hochrisikogruppen impfen, haben wir es glaube ich im Großen und Ganzen überstanden.
Es muss also gar nicht ein Großteil der Bevölkerung geimpft sein?
Genau. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Erkrankten nicht mehr so häufig ein Intensivbett benötigten.«