Ins Lesebuch für die Oberstufe
Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:
sie sind genauer. Roll die Seekarten auf,
eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht.
Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor
schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust
Zinken. Lern unerkannt gehen, lern mehr als ich:
das Viertel wechseln, den Paß, das Gesicht.
Versteh dich auf den kleinen Verrat,
die tägliche schmutzige Rettung. Nützlich
sind die Enzykliken zum Feueranzünden,
die Manifeste: Butter einzuwickeln und Salz
für die Wehrlosen. Wut und Geduld sind nötig,
in die Lungen der Macht zu blasen
den feinen tödlichen Staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.
Hans Magnus Enzensberger (1957, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 94 Seiten. 6 Mark.)
Gegenrede:
https://apolut.net/der-kaiser-hat-keine-kleider-ueber-den-mut-den-bann-zu-brechen/
DER (einzige) Feind einer schlechten Lösung ist eine bessere.
https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/foresight_report_com750_en.pdf
??? Den Sinn versteh ich nicht…
Viele Grüße,
Der Ösi
Enzensberger warnt davor, sich in Zeiten des übergriffigen, authoritären und gleichgeschalteten Staates in schwärmerischen und ungenauen Idealen zu verlieren (Oden behandelt meist hochgeistige, philosophische oder moralische Themen) und empfielt statt dessen das Studieren der Fahrpläne – der Pläne, wie das System läuft. Er rät dazu, rein äußerlich mit der Masse zu schwimmen ("lern unerkannt gehen"), weil sich offen gegen das System zu stellen zu Stigmatisierung und Schlimmerem führt (sozialer Druck "Listen am Tor", direkter Angriff "Zinken auf der Brust"). Statt dessen solle man im Kleinen Sand ins Getriebe der Monstermaschinerie streuen, sich die Menschlichkeit bewahren und auf den richtigen Zeitpunkt warten. Die Strategie der kleinen Nadelstiche.
Während dieses Vorgehen sicher besser als nichts ist, kann man darüber streiten, ob es den Erfolg bringen kann. Der im ersten Kommentar verlinkte Artikel von Ruechel vertritt eine gegenteilige Ansicht: Der Glaube, sich durch Ducken in tyrannischen Systemen Freiraum erkaufen zu können, ist eine Illusion. Die Wegducker und Mitläufer verlieren ihre Freiheiten nur ein wenig später. Aber je später es wird, desto schwerer wird es, etwas zu ändern.
Die Illusion, die allen Diktaturen in die Hände spielt, ist die behauptete Alternativlosigkeit. Diese Illusion müssen sie erzeugen – am besten gepaart mit Angst – weil das Menschen dazu bringt, mitzulaufen statt innezuhalten und über mögliche Alternativen nachzudenken. Deshalb müssen Kritiker hier ansetzen, offen und so viel wie möglich Dissenz und Alternativen zeigen, um die Illusion zu zerstören, es gebe nur den einen, der Macht dienlichen Weg . Erst wenn das Gefühl der Masse verwirrt wird und der Verstand Sachen aussortieren muss, gibt es überhaupt die Möglichkeit, mit Argumenten durchzudringen. Das ist riskant, aber das Risiko wird nicht kleiner, nur weil man sich am Anfang versteckt – es hilft nur, die Machtbefugnisse und Übergriffigkeit des Regimes auszudehnen. Zu Beginn hetzen Diktaturen gegen ausgemachte, definierte Gruppen, am Ende kontrollieren sie alle Menschen mit den gleichen Mitteln.
Es gab dieses Sand-ins-Getriebe-Blasen. Das Dritte Reich hat es zwölf Jahre gegeben, die DDR eine ganze Generation. Beide Systeme hatten massiv mit Druck von Außen bzw. Verlust des Rückhalts seitens der SU zu tun. Es gibt andere Regime, die halten noch wesentlich länger durch. Die Frage ist, ob diese Sabotage von Innen zum Erfolg führen kann; sicher nicht alleine. Am Ende sitzt das Regime am längeren Hebel, während die Dissidenten sich aufreiben im Kampf gegen eine Maschinerie, die keinen individuellen Schmerz, keine Ermüdung und Hoffnungslosigkeit plagt.
Zur Interpretation des Gedichtes:
"Aufforderung zum Verdacht
Der Titel des Gedichts war ironisch gemeint. Er ist längst Tatsache geworden. Wer heute mit seinen Schülern in der Oberstufe Oden liest, riskiert die Frühpensionierung. Die Fahrpläne haben gesiegt. Nur die Züge selbst haben immer größere Verspätung. Das Lesen von Fahrplänen hat sich zu einer kreativen Tätigkeit entwickelt wie einst das Odenschreiben: Wenn der 18.33er vor 19 Uhr eintrifft, könnte ich in Mannheim noch den 19.33er erreichen, der vermutlich gegen 20.15 dort ankommt…
Enzensbergers erster Gedichtband, Verteidigung der Wölfe, erschien zehn Jahre vor dem Beginn der Studentenbewegung. Er nahm ihren Zorn vorweg, ihre Attacken auf Mief und Filz und klebrige Feierlichkeit, aber er war witziger, imaginativer und vor allem belesener als die Gedichte der Achtundsechziger. Dennoch war der Autor nicht etwa seiner Zeit voraus. Er kam genau richtig. Er besaß ein gutes Gehör und sagte, was es geschlagen hatte. Ein Luftzug fuhr durch die deutsche Literatur. Da und dort knallten Fenster. Im gleichen Jahr 1957 erschien in England das Stück eines Gleichaltrigen, John Osbornes Look Back in Anger. Es gab einer Generation den Namen. Man sprach von den Angry Young Men. Exakt dies war der achtundzwanzigjährige Enzensberger in Deutschland: der zornige junge Mann als Phänotyp der Stunde.
Der hier vor den Oden warnte, war ein Odenkenner. Er liebte sie, liebte die Literatur, liebte die Dichterinnen und Dichter der weiten Welt. Aber er wollte sie nicht hinter Glas. Literatur war ihm strömende Luft, mächtiges Blasen, Passatwind über dem Planeten. Sie sollte den bösen Staub aufwirbeln, von dem das Gedicht am Schluß spricht. Gefährlich will dieser Dichter sein Gedicht. …"
http://www.planetlyrik.de/peter-von-matt-zu-hans-magnus-enzensbergers-gedicht-ins-lesebuch-fuer-die-oberstufe/2016/07/
das Gedicht ist ein Manifest, sich nicht im Schein
und dem Zuckerguss des ruhigen (demokratischen, hollywoodmässigen, wokewhatever) Lebens wohl zu fühlen!
Bald klopfen die im Norden wieder mit den Stiefel,
ein Unrechtsystem(nie überwunden) nimmt wieder überhand!!
Dann kennst du die Fahrpläne , die Flugpläne: Hau ab, bevor es zu spät ist!
Nie wird sich etwas ändern, das Tier Mensch braucht Blut und Tod und Täuschung