Medien in der Pandemie. Selbstkritik?

"Gesin­nung? Wir brau­chen Auf­klä­rung!" lau­tet die Über­schrift eines Arti­kels am 22.2. auf tages​spie​gel​.de. Der Autor ist Micha­el Hal­ler, wis­sen­schaft­li­cher Direk­tor des Euro­päi­schen Insti­tuts für Jour­na­lis­mus- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­schung in Leip­zig. Es ist zu lesen:

»Wie ein Virus gras­siert unter Jour­na­lis­ten der Irr­tum, sie müss­ten für die Ber­li­ner Coro­na-Poli­tik Par­tei ergreifen

Schon seit einem Jahr starrt das Kar­ni­ckel wie gelähmt auf die Schla­ge. Das Kar­ni­ckel sind wir, die Bewoh­ner demo­kra­tisch regier­ter Staa­ten; die Schlan­ge ist das Coro­na­vi­rus. Doch genau genom­men ist es gar nicht die Schlan­ge selbst, vor der wir in Angst erstar­ren. Es sind die Schil­de­run­gen über die­se anschei­nend so heim­tü­cki­sche Schlan­ge, die uns die Medi­en mit gro­ßen Bil­der­ge­schich­ten, lan­gen Exper­ten­be­fra­gun­gen und zahl­lo­sen Gra­fi­ken tag­täg­lich erzählen. 

Wie sol­len wir mit die­sen Erzäh­lun­gen umge­hen? Neun­mal­klu­ge Kri­ti­ker fra­gen: Stim­men sie über­haupt? Es ist eine irre­füh­ren­de Fra­ge, denn nie­mand weiß genau, wie die­se Schlan­ge sich wirk­lich ver­hält, ob und wann sie sich häu­tet und ver­än­dert. Über­prü­fen kann man nur, was die Schlan­gen­be­schwö­rer und vom Schlan­gen­gift Betrof­fe­nen über sie erzäh­len: Stim­men ihre Schil­de­run­gen über­ein? Was wis­sen sie, was behaup­ten sie nur?

Auch nach einem Jahr wird nie­mand bestrei­ten, dass die Coro­na-Pan­de­mie ein kom­ple­xes, kaum durch­schau­tes Gesche­hen dar­stellt. Erfas­sen kann es nur, wer es aus ver­schie­de­nen Rich­tun­gen in den Blick nimmt. Zu den gro­ßen, anspruchs­vol­len Auf­ga­ben der Jour­na­lis­ten zählt, die­se Kom­ple­xi­tät in Augen­schein zu neh­men und ihrem Publi­kum auch wider­sprüch­li­che Posi­tio­nen in ver­ständ­li­cher Form dar­zu­le­gen. Dies unter­schei­det den Jour­na­lis­mus seit eh und je von der PR, die allein die enge Sicht ihres Auf­trag­ge­bers kri­tik­los ver­mit­teln soll.«

Hal­ler setzt sich mit einem Essay von Mal­te Leh­ming aus­ein­an­der, der eben­falls im Tages­spie­gel erschien und eini­ge kri­ti­sche Befun­de benannt hatte.

»Erhe­bun­gen bekräf­ti­gen, dass ein wach­sen­der Teil der Bevöl­ke­rung den Ein­druck hat, die Main­stream­m­e­di­en – allen vor­an ARD und ZDF – pro­pa­gier­ten die Coro­na-Poli­tik der Bun­des­re­gie­rung, wäh­rend zur Coro­na-Poli­tik kri­tisch ein­ge­stell­te Fach­leu­te kaum zu Wort kämen. Die vori­ge Woche publi­zier­ten Daten des Edel­man Trust Baro­me­ter spie­geln ein noch kras­se­res Bild: Rund 60 Pro­zent der Befrag­ten fin­den, die Jour­na­lis­ten wür­den nicht über­par­tei­lich und objek­tiv berich­ten, son­dern poli­ti­sche Posi­tio­nen und Ideo­lo­gien vertreten…

Sofern die Jour­na­lis­ten davon aus­ge­hen, dass die Erwach­se­nen­be­völ­ke­rung über­wie­gend aus zurech­nungs- und denk­fä­hi­gen Per­so­nen besteht, müss­te die von Leh­ming refe­rier­te Medi­en­kri­tik in den Redak­tio­nen wie ein Alarm­si­gnal schril­len: Was machen wir falsch? Das Miss­ver­ständ­nis besteht dar­in, dass Mal­te Leh­ming die Alarm­lam­pe als grü­nes Licht deu­tet: nur wei­ter so!…

Stell­ver­tre­tend für vie­le ande­re recht­fer­tigt Leh­ming sei­ne Par­tei­nah­me für die rot­grün­schwar­ze Regie­rungs­po­li­tik mit der Chif­fre „Wer­te­ge­mein­schaft“. Was ist das? Zwei­fels­frei braucht der seriö­se Jour­na­lis­mus eine auf Wer­te bezo­ge­ne Hal­tung. Doch die­se bezieht sich auf unse­re Grund­ord­nung, die wir aus guten Grün­den eine demo­kra­tisch-frei­heit­li­che nen­nen. Sie gewähr­leis­tet auch die Ver­samm­lungs- und Bewe­gungs­frei­heit, die durch die Lock­down-Poli­tik mas­siv beschränkt wird…

Unse­re der­zeit lau­fen­den Inhalts­ana­ly­sen zur Coro­na-Bericht­erstat­tung bestä­ti­gen dies: Die Berich­te in den Main­stream­m­e­di­en wir­ken (zu) oft ein­sei­tig und tendenziös.

Dar­in aller­dings stim­me ich Mal­te Leh­ming zu: Das Mei­nungs­spek­trum wei­tet sich der­zeit. Wir fin­den jetzt häu­fi­ger Recher­chen und Ana­ly­sen, die mit der aktu­el­len Pan­de­mie­be­kämp­fung kri­tisch umge­hen und abwei­chen­de Posi­tio­nen auf­zei­gen. Doch die­se Dif­fe­ren­zie­rung trat erst ein, als in der Advents­zeit die Wider­sprü­che der Lock­down-Poli­tik offen­sicht­lich und der Unmut in der Bevöl­ke­rung unüber­hör­bar wur­den…«

4 Antworten auf „Medien in der Pandemie. Selbstkritik?“

  1. … schreibt der Tages­spie­gel, um mor­gen mit par­tei­li­cher Gesin­nungs­be­richt­erstat­tung fort­zu­fah­ren als wäre nichts gewesen.

    So läuft das schon seit Mona­ten, um die Illu­si­on einer funk­tio­nie­ren­den "4. Gewalt" und des Plu­ra­lis­mus auf­recht­zu­er­hal­ten; es ist die Per­fek­tio­nie­rung der Meinungslenkung.

    1. Stimmt genau. Nach Jahr­zehn­ten, in denen ich den Tages­spie­gel – sel­ten mit wirk­li­chem Ver­gnü­gen – abon­niert hat­te, seh­ne ich den Mai her­bei, dann endet mein Abo. Und er kommt mir nie wie­der ins Haus.

  2. Für mich passt die Meta­pher eher so:

    "Das Kar­ni­ckel sind wir, die Bewoh­ner demo­kra­tisch regier­ter Staa­ten und ihre Regie­run­gen; die Schlan­ge ist das Mediengedöns"

    - denn was heu­te die Coro­na-Poli­tik der Bun­des­re­gie­rung ist, war zunächst das Panik­ge­tö­se z.B. des Maskenspiegel.

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