Muss man sich die Grundrechte durch Impfen verdienen?

Das fragt am 3.1. Heri­bert Prantl, Kolum­nist und Autor der SZ, auf sued​deut​sche​.de:

»Zu Weih­nach­ten bekam ich, wun­der­bar ein­ge­packt, ein Grund­ge­setz geschenkt. Das klingt nun nicht beson­ders ori­gi­nell. Und es ist ja auch so, dass ich schon ganz vie­le Grund­ge­set­ze habe – in allen denk­ba­ren Aus­ga­ben: groß­for­ma­ti­ge und klein­for­ma­ti­ge, bebil­der­te und unbe­bil­der­te, kom­men­tier­te und unkom­men­tier­te, schön gebun­de­ne und bil­lig zusam­men­ge­kleb­te. Da gibt es Exem­pla­re, die, es ist ein schö­ner Gag, kaum grö­ßer sind als eine Brief­mar­ke. Und da gibt es Exem­pla­re, die haben, und das ist kein Gag, sage und schrei­be 16 000 Sei­ten. Bei letz­te­rem Grund­ge­setz han­delt es sich um den respekt­hei­schen­den Groß­kom­men­tar von Maunz/Dürig, der bei C.H. Beck in sie­ben Lei­nen­ord­nern als Lose­blatt­samm­lung der­zeit in der 92. Auf­la­ge erscheint und in dem renom­mier­te Staats­recht­ler die ein­zel­nen Grund­ge­setz­ar­ti­kel kom­men­tie­ren und die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts dazu analysieren.

Die Bürde des Menschen ist unantastbar

Mein Weih­nachts­ge­schenk-Grund­ge­setz ist zwar nur ein Taschen­büch­lein, aber es ist gleich­wohl ein sehr beson­de­res Exem­plar. Auf der Vor­der­sei­te sieht man einen Men­schen mit dem Kopf des Bun­des­ad­lers; die­ser Mensch lässt gera­de die Hosen run­ter und steht mit nack­tem Hin­tern da. Auf der Rück­sei­te des Büch­leins sieht man, wie die­ser Adler­mensch dick und brä­sig auf den Schul­tern einer klei­nen Per­son hockt und sich tra­gen lässt. Die Beschrif­tung dazu lau­tet: "Die Bür­de des Men­schen ist unan­tast­bar." Dar­un­ter, klein gedruckt, die War­nung: "Wer das Grund­ge­setz nach­macht oder das Grund­ge­setz ver­fälscht oder nach­ge­mach­te oder ver­fälsch­te Grund­ge­set­ze sich ver­schafft und in Ver­kehr bringt, wird mit Frei­heits­stra­fe nicht unter zwei Jah­ren bestraft."

Das Grundgesetz und die Titanic

Mein Weih­nachts­ge­schenk-Grund­ge­setz ist, Sie ahnen es wohl, kein juris­ti­sches, son­dern ein sati­ri­sches Werk. Es stammt von F. K. Waech­ter, der ein begna­de­ter Zeich­ner, Kari­ka­tu­rist, Car­too­nist und Autor war, der zu den Prot­ago­nis­ten der Neu­en Frank­fur­ter Schu­le gehör­te und vor vier­zig Jah­ren zu den Grün­dungs­mit­glie­dern des Sati­re­ma­ga­zins Tita­nic. Das von ihm kom­men­tier­te und illus­trier­te Grund­ge­setz ist nicht mehr auf dem neu­es­ten Stand; mein Weih­nachts-Geschenk-Exem­plar stammt aus dem Jahr 1982, also aus der Zeit lan­ge vor der Wie­der­ver­ei­ni­gung und vor diver­sen Grundrechtsänderungen.

Genießen nur geimpfte Menschen Grundrechte?

Mein Weih­nachts­ge­schenk-Grund­ge­setz ent­hält daher natür­lich auch kei­ner­lei Anspie­lun­gen auf Coro­na, auf die Pan­de­mie und auf die aktu­el­len Debat­ten dazu, ob die Men­schen, die sich gegen Coro­na haben imp­fen las­sen, sich damit Pri­vi­le­gi­en ver­dient haben. Die Pri­vi­le­gi­en sol­len dar­in bestehen, dass für sie die Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen, wie sie zur Bekämp­fung von Coro­na erlas­sen wur­den, nicht mehr gel­ten; so pro­pa­giert es unter ande­rem Hans-Jür­gen Papier, der frü­he­re Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts. Das klingt erst ein­mal plau­si­bel, weil es sehr unver­hält­nis­mä­ßig ist, den Men­schen, von denen kei­ne Infek­ti­ons­ge­fahr mehr aus­geht, sol­che Belas­tun­gen auf­zu­er­le­gen. Also sol­len die Geimpf­ten, so mei­nen Papier und ande­re, die Grund­rech­te genie­ßen dür­fen, die Unge­impf­ten aber nicht.

Grundrechte sind keine Privilegien

Wie gesagt, das klingt erst ein­mal plau­si­bel und rich­tig – auch wenn man sich sogleich fra­gen mag, was denn der Ein­zel­ne zum Bei­spiel dafür kann, dass er nach der von der Staats­ver­wal­tung fest­ge­leg­ten Impf­rei­hen­fol­ge erst in vie­len Mona­ten mit sei­ner Imp­fung an der Rei­he ist und also auch solan­ge auf den Genuss der vol­len Grund­rech­te war­ten muss. Es ist ers­tens hoch­pro­ble­ma­tisch, dass die­se Impf­rei­hen­fol­ge von der Ver­wal­tung und nicht vom Gesetz­ge­ber fest­ge­legt wird; alle wesent­li­chen Ent­schei­dun­gen müs­sen, das gehört zum rechts­staat­li­chen Ein­mal­eins, vom Gesetz­ge­ber getrof­fen wer­den. Und es ist zwei­tens hoch­pro­ble­ma­tisch, dass der Staat es auf die­se Wei­se in der Hand hat, Grund­rech­te zuzuteilen.

Das führt zum sehr grund­sätz­li­chen Haupt­ein­wand gegen die soge­nann­ten Pri­vi­le­gi­en für Geimpf­te: Grund­rech­te sind kei­ne Pri­vi­le­gi­en, die man sich erst durch ein bestimm­tes Han­deln oder durch ein bestimm­tes Ver­hal­ten ver­die­nen kann oder ver­die­nen muss. Grund­rech­te sind kei­ne Beloh­nung, kei­ne Gra­ti­fi­ka­ti­on, kein Bonus, kein 13. Monats­ge­halt. Sie sind ein­fach da, jeder hat sie, jeder darf sie in Anspruch neh­men. Grund­rech­te hei­ßen Grund­rech­te, weil sie dem Men­schen als Mensch und/oder als Staats­bür­ger zuste­hen. Das ist ja das ganz Beson­de­re, das ist das Wun­der­ba­re an den Grund­rech­ten: Sie gel­ten unab­hän­gig vom Alter, unab­hän­gig vom Ein­kom­men, unab­hän­gig von Rang und Haut­far­be, unab­hän­gig von Glau­ben und Welt­an­schau­ung, unab­hän­gig von Gesund­heits­zu­stand und Intel­li­genz­quo­ti­ent. Ein Grund­recht steht einem auch dann zu, wenn man sich des­sen gar nicht bewusst ist, dass man ein Grund­recht hat. Die Grund­rech­te sind auch nicht irgend­wo gela­gert, sie müs­sen nicht in einem Grund­rech­te­la­ger abge­holt wer­den gegen Vor­la­ge bestimm­ter Beschei­ni­gun­gen, so wie ein Paket bei der Post.

Symbolhafte Opfergaben, Verzichtsgehorsam

Das beson­ders Schö­ne an dem von F. K. Waech­ter illus­trier­ten Grund­ge­setz ist der Stolz auf die Grund­rech­te, den man auch in sei­nen bit­ters­ten und bis­sigs­ten Zeich­nun­gen spürt. Die Pan­de­mie-Poli­tik hat dazu geführt, dass die­ser Stolz gelit­ten hat, dass es gar einen Stolz dar­auf gibt, Grund­rech­te dem Virus zu opfern. Ich habe es vor Kur­zem schon ein­mal geschrie­ben: Mir ist bei einer Hal­tung unwohl, die so tut, als sei das Virus die Neu­aus­ga­be einer archai­schen Gott­heit, die man durch sym­bol­haf­te Opfer­ga­ben und Ver­zichts­ge­hor­sam befrie­di­gen muss.

Es geht nicht um Sym­bo­le, es geht nicht um Signa­le, die von einem Han­deln aus­ge­hen, oder um Zei­chen, die man mit einem Ver­bot set­zen will; es geht um die Fra­ge: Was ver­hin­dert wirk­lich die Ver­brei­tung des Virus? Gera­de weil das häu­fig nur durch Ver­such und Irr­tum her­aus­zu­fin­den war und ist, ist eine Eva­lua­ti­on, wie wirk­sam die jewei­li­gen Maß­nah­men sind, unbe­dingt nötig. Die gene­rel­len, pau­scha­lie­ren­den Ein­grif­fe in die Grund­rech­te durch Ver­bo­te, Aus­gangs­sper­ren, Schul- und Betriebs­schlie­ßun­gen, sind hei­kel. Sie wer­den nicht weni­ger hei­kel dadurch, dass man sich den Zutritt zu den ver­schlos­se­nen Grund­rech­ten – aktu­ell durch eine Imp­fung – wie­der erwer­ben kann.

Ver­fas­sun­gen sol­len, so hat ein­mal jemand süf­fi­sant gesagt, so sein, dass sie die Ver­fas­sung der Bür­ger nicht rui­nie­ren. Das ist aber viel zu wenig. Ver­fas­sun­gen sol­len dabei hel­fen, dass die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in guter Ver­fas­sung blei­ben und ihren Rech­ten nicht die Luft aus­geht. Momen­tan geht den Rech­ten der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die Luft aus.

Der Ber­li­ner Ver­fas­sungs­recht­ler und Rechts­phi­lo­soph Chris­toph Möl­lers hat das vor ein paar Tagen im Inter­view in der SZ so for­mu­liert: "Man kann eine Gesell­schaft auch anäs­the­sie­ren, indem man sagt, eigent­lich gilt die Ver­samm­lungs­frei­heit, aber gera­de jetzt dürft ihr nicht demonstrieren."

Ich wün­sche Ihnen, ich wün­sche uns, dass wir auch in Coro­na-Zei­ten wach blei­ben. Dann wird es ein gutes Jahr 2021.«

9 Antworten auf „Muss man sich die Grundrechte durch Impfen verdienen?“

  1. Respekt und Dan­ke, Herr Prantl!
    Ich hof­fe für Sie und alle Bür­ger, Sie dür­fen in Zukunft auch wei­ter­hin für die SZ und ande­re "Infor­ma­ti­ons­me­di­en" ähn­li­che Kolum­nen schrei­ben und veröffentlichen…;-)

  2. Da hat er dann ja doch recht lan­ge gebraucht, der gute Heri­bert Prantl, bis er sich end­lich getraut hat, öffent­lich kri­tisch Stel­lung zu beziehen.
    Im ver­gan­ge­nen Jahr hat­ten sei­ne Kom­men­ta­re über­wie­gend ent­we­der direkt oder in wohl­fei­len Betrach­tun­gen ver­brämt die ver­ord­ne­ten Maß­nah­men als ein wenn­gleich gele­gent­lich schwer zu ertra­gen­des, so aber doch not­wen­di­ges Übel dar­ge­stellt und dem inter­es­sier­ten Leser zum Durch­hal­ten wech­seln­de Alle­go­rien geliefert.
    Sei­ne intel­lek­tu­ell aus­ge­form­ten Bei­trä­ge zur Regie­rungs­pro­pa­gan­da waren damals so schwer für mich zu ertra­gen, dass ich sei­nen News­let­ter abbe­stellt hatte.

  3. Prantl ist der Ver­tre­ter einer aus­ster­ben­den Spe­zi­es von Jour­na­lis­ten, zudem noch Jurist. Einer, der noch nach­denkt und klu­ge Sachen schreibt. Hält man einen Lars Wie­land dage­gen, könn­te man nur noch heu­len. Lei­der sind die­se Leu­te in der Mehrheit.

  4. Prantl ist das Fei­gen­blatt: "Seht ihr, es gibt ja laut ver­nehm­li­che Kri­tik, die Demo­kra­tie funktioniert!"

    Aber, und dar­auf kommt es an: Prantl wür­de nie die­se rie­si­ge Lüge anpran­gern als das, was sie ist: eine rie­si­ge, von dem gewähl­ten Per­so­nal und der Eli­te (zu der er selbst gehört) ange­zet­tel­te und bewusst auf­ge­bau­te Lüge um mit här­tes­ten Maß­nah­men durch­re­gie­ren zu können. 

    Indem Prantl in sei­nen Kom­men­ta­ren den Glau­ben an die Coro­na-Gefahr auf­recht erhält (was bei sei­ner Intel­li­genz eigent­lich nicht glaub­haft ist, ange­sichts der vie­len offen­sicht­li­chen Brü­che in der Lügen-Erzäh­lung) stützt er das Nar­ra­tiv. Indem er ein biss­chen mehr Demo­kra­tie for­dert – ange­sichts einer veri­ta­blen Gesund­heits-Dik­ta­tur, macht er bes­ten­falls den Hof­narr – viel­leicht aber sogar den Heuch­ler – den bei­de stüt­zen letz­lich das kran­ke System.

    Und Papier hat sich ja wohl voll­stän­dig erle­digt, wenn das wirk­lich des­sen Stand­punkt ist. Der hat ja auch schon mal kri­ti­sche Wor­te gefun­den – und nun spricht er der Zwei­klas­sen­de­mo­kra­tie das Wort – will Men­schen, die sich nicht Kör­per­ver­let­zen las­sen, die Grund­rech­te abspre­chen. Widerlich!

  5. Letzt­end­lich besorgt er sich ein Fei­gen­blatt: Ich habe es doch immer schon gesagt … 

    Ande­re vor ihm waren genau­so: Ich war es nicht, Adolf Hit­ler ist es gewe­sen. Und haben zwölf lan­ge Jah­re mitgetan.

  6. Wie gesagt, das klingt erst ein­mal plau­si­bel und rich­tig – auch wenn man sich sogleich fra­gen mag, was denn der Ein­zel­ne zum Bei­spiel dafür kann, dass er nach der von der Staats­ver­wal­tung fest­ge­leg­ten Impf­rei­hen­fol­ge erst in vie­len Mona­ten mit sei­ner Imp­fung an der Rei­he ist und also auch solan­ge auf den Genuss der vol­len Grund­rech­te war­ten muss.

    Ekel­haft.
    Wie in 2020 hin­ter­fragt Prantl viel zu wenig.
    Grund­rech­te sind Grund­rech­te. Die schafft man nicht ab, und noch weni­ger bekom­men sie dann die­je­ni­gen zurück, die sich gegen irgend­et­was imp­fen lassen.
    Das allei­ne ist ein Skan­dal, und wenn Prantl das nicht auch als sol­chen benennt – was er, s.o., ganz ein­deu­tig nicht tut – dann ist alles rund­her­um auch nur Pseudogeschwafel.

    Nein, Herr Prantl, das reicht hin­ten und vor­ne nicht.

    Sor­ry, Leu­te, aber ist so.

  7. "Ver­fas­sun­gen sol­len, so hat ein­mal jemand süf­fi­sant gesagt, so sein, dass sie die Ver­fas­sung der Bür­ger nicht rui­nie­ren. Das ist aber viel zu wenig. Ver­fas­sun­gen sol­len dabei hel­fen, dass die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in guter Ver­fas­sung blei­ben und ihren Rech­ten nicht die Luft aus­geht. Momen­tan geht den Rech­ten der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die Luft aus."

    Arti­kel 146 des GG (der letz­te im GG) beinhal­tet die Ausa­ge, dass das Grund­ge­setz kei­ne Ver­fas­sung ist. https://​www​.geset​ze​-im​-inter​net​.de/​g​g​/​a​r​t​_​1​4​6​.​h​tml

    Bei der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung kann man das Grund­ge­setz kos­ten­los bezie­hen, und sich bis zu 6 Stück por­to­frei zusen­den lassen:

    https://m.bpb.de/shop/buecher/grundgesetz/34367/grundgesetz-fuer-die-bundesrepublik-deutschland

    Und eine Über­sicht der Ände­run­gen des GG seit 2006 fin­det man hier: https://​www​.buzer​.de/​g​e​s​e​t​z​/​5​0​4​1​/​l​.​htm

  8. Mei­ner Mei­nung nach ist das eine sehr klu­ge, sehr gut geschrie­be­ne und kri­ti­sche Kolum­ne von Heri­bert Prantl und ein kla­res Votum gegen die Ein­schrän­kung von Grundrechten:

    "Grund­rech­te sind kei­ne Pri­vi­le­gi­en, die man sich erst durch ein bestimm­tes Han­deln oder durch ein bestimm­tes Ver­hal­ten ver­die­nen kann oder ver­die­nen muss. Grund­rech­te sind kei­ne Beloh­nung, kei­ne Gra­ti­fi­ka­ti­on, kein Bonus, kein 13. Monats­ge­halt. Sie sind ein­fach da, jeder hat sie, jeder darf sie in Anspruch neh­men. Grund­rech­te hei­ßen Grund­rech­te, weil sie dem Men­schen als Mensch und/oder als Staats­bür­ger zuste­hen. Das ist ja das ganz Beson­de­re, das ist das Wun­der­ba­re an den Grund­rech­ten: Sie gel­ten unab­hän­gig vom Alter, unab­hän­gig vom Ein­kom­men, unab­hän­gig von Rang und Haut­far­be, unab­hän­gig von Glau­ben und Welt­an­schau­ung, unab­hän­gig von Gesund­heits­zu­stand und Intelligenzquotient."

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