Auf welche Fachleute in Sachen Corona kann sich die Bundesregierung eigentlich noch stützen? Nach dem Abtauchen von C. Drosten werden uns täglich Fachfremde wie Herr Wieler vom RKI (Univ.-Prof. für Mikrobiologie und Tierseuchenlehre) und der Epidemiologie-Darsteller Lauterbach präsentiert.
Virologen wie Streeck dürfen sich zu Wort melden, werden bei den Entscheidungen aber übergangen. Einer, der seit Anbeginn der Pan(ik)demie mit differenzierten Worten zu vernehmen war und dem es ähnlich ergeht, ist der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit.
Lauterbach zählt…
Offenbar nur noch das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" ist bereit, Lauterbach ernst zu nehmen und hält ihn für "einen der gefragtesten Politiker". Vermutlich, weil das Portal ihn bei einer Suche in den eigenen Publikationen 1.149 Treffer ausgibt. Ein interviewender Redakteur bricht auch nicht in Lachkrämpfe aus, als Lauterbach sich so darstellt:
»Ich würde mich total blamieren, wenn ich durch eine Vereinfachung oder eine Zuspitzung fachlichen Unsinn erzählen würde. Ich überlege mir sehr genau, was ich wie sage.«
welt.de sieht dagegen "Die Gefahr hinter der Methode Lauterbach" und amüsiert sich:
»Seit Monaten vergeht fast kein Tag, da Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte der SPD, nicht vor irgendwas im Zusammenhang mit Corona warnt.«…
… Schmidt-Chanasit nicht
Der Hamburger Virologe ist durchaus ein Verfechter von "AHA". Allerdings widersetzt er sich der Panikmache, vor allem, wenn es um das Kindeswohl geht. Zu Lauterbach findet er klare Worte:
»Solche Äußerungen führen zu einer Dauer-Aufgeregtheit und können zu einer Corona-Müdigkeit führen. Und das ist hochgefährlich«
Er bezieht sich auf Lauterbachs Warnung, die Maskenpflicht im Einzelhandel aufzuweichen.
»"Wenn ich den Zugang so regele, dass entsprechend wenig Leute im Geschäft sind, die die Abstände dann einhalten, ist eine Maske auch nicht sinnvoll", sagte Schmidt-Chanasit dem "Hamburger Abendblatt".«
Das interessiert die EntscheiderInnen ebensowenig wie diese Überlegungen:
»Schmidt-Chanasit hält es auch für möglich, dass unter neuen Hygiene-Standards auch Diskotheken wieder öffnen…
Auch Fußballspiele mit Fans in Stadien sind nach Ansicht des Virologen bei reduzierter Kapazität denkbar, sofern die Besucher Abstand halten und die Nachverfolgbarkeit gesichert ist.«
Entsetzen löste im Mainstream seine Auffassung aus:
»Der Virologe hat Verständnis dafür, dass Menschen ihr Recht zu demonstrieren wahrnehmen. "Demonstrieren ist ein Grundrecht" sagt er in Bezug auf die neu entfachte Debatte über das Demonstrationsrecht.«
Es rettet ihn nicht, wenn er auf die Frage
»Meint er damit, dass Großdemonstrationen, wie die von tausenden Corona-Leugnern in Berlin… veranstaltet wurden, kein Problem sind, bzw. kein Corona-Risiko?«
relativiert, es
»… müssten hier gewisse Dinge eingehalten werden: "Demos mit reduzierter Personenzahl, Mund-Nasenschutz und ohne Gedränge sind aus virologischer Sicht denkbar".«
Auch diese differenzierte Meinung wird wohl eher verhallen:
»"Wenn man jungen Leuten verbietet, Party zu machen, dann machen sie es illegal", sagt Schmidt-Chanasit gegenüber RTL, auf die Frage hin, ob das Feiern angesichts der aktuellen Zahlen in Ordnung sei. Bei den Clubs müssen seiner Ansicht nach "intelligente Hygiene-Konzepte" her, "mit personalisierten Eintrittskarten und Corona-Tests zum Beispiel. Dann könnte auch das legale Feiern vielleicht wieder möglich sein.«
Ignoriertes zu Schulen
»"Dass eine Schule komplett zugemacht wird, weil eine Lehrkraft sich infiziert hat, das geht eben vollkommen an der Realität vorbei“" sagte Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg, im Dlf. Er ist dort zuständig für den Forschungsbereich "Neu auftretende Infektionskrankheiten".«
sagte er am 7.8 dem Deutschlandfunk. Zum Mundschutz-Zwang in Schulen argumentiert er: Das ist
»… eine Frage, die weit über die virologisch-infektiologische Frage hinausgeht. Das heißt, diese Frage kann man nur im Kontext mit den Pädagogen, den Soziologen und auch den Krankenhaushygienikern beantworten. Da ist sozusagen der virologische Punkt gleichberechtigt…, darum ist die Antwort auf diese Frage so: Ja, aus virologischer Sicht macht es Sinn, wenn kein Abstand eingehalten werden kann, wegen der Tröpfchen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, aber können Sie einem sechsjährigen Kind zumuten, fünf, sechs Stunden sozusagen einen Mund-Nasen-Schutz korrekt zu verwenden. Diese Frage kann ich nicht als Virologe beantworten, aber ich kenne die Antwort der Kollegen, die ist ganz klar nein.«
Weiter heißt es:
»Tröpfchen und Aerosole getrennt betrachten
[DLF]: Sie haben es schon angesprochen, es hat sich ja herausgestellt, dass das Virus sich massiv auch über sogenannte Aerosole verbreitet. Heißt das für die Bevölkerung, dass der Mundschutz uns auf jeden Fall noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird?
Schmidt-Chanasit: Ja, da bringen Sie was durcheinander. Der einfache Mund-Nasen-Schutz ist ja dafür da, Tröpfchen aufzuhalten, Sie schützen das Gegenüber. Aerosole gehen natürlich an der Außenseite vorbei, können natürlich eingeatmet werden und strömen auch aus, und das muss man auch noch mal deutlich unterscheiden. Aerosole spielen natürlich in geschlossenen Räumen eine Rolle, wenn Sie draußen sind, findet eine schnelle Verdünnung, Inaktivierung statt. Hier sind beide – Tröpfchen und Aerosole – getrennt zu betrachten und natürlich auch die Sinnhaftigkeit des Mund-Nasen-Schutzes. Mund-Nasen-Schutz macht dort Sinn, wo Sie keinen Abstand einhalten können, Aerosole spielen auch ohne Abstand eine Rolle.«
Er denkt zu viel mit dem eigenen Kopf
»Das ist jetzt quasi eine Binsenweisheit, und ich kann es auch nur noch mal wiederholen, dass eben ganz wichtig ist die Aspekte der Ökonomie, weil ohne funktionierende Wirtschaft können wir uns dieses Gesundheitssystem, was uns quasi durch diese Pandemie trägt, nicht leisten, dessen Ausbildung ein ganz wichtiges Grundrecht, was es zu berücksichtigen gilt, gerade eben in den Schulen, auch in den Universitäten, da geht es um die Zukunft der jungen Menschen. Der vierte Aspekt sind die Grundrechte, weil alle Maßnahmen, die wir beschließen, werden durch Gerichte überprüft werden, und es ist nicht selten vorgekommen, dass sie eben durch die Gerichte nicht bestätigt werden, weil sie nicht verhältnismäßig sind. Insofern ist das ganz wichtig, das immer im Hinterkopf zu haben.«
Und argumentiert fast kommunistisch
»Was ich wirklich als Problem sehe und auch verstärkt wahrnehme, ist eben genau diese Spaltung, die Sie beschrieben haben – nicht nur zwischen jung und alt, sondern zwischen arm und reich, genau dieses, was oftmals auch als Argument vorgebracht wird: Warum müssen denn die Leute jetzt irgendwie nach Bulgarien fahren, warum können die nicht einfach zu Hause bleiben? Das sagen Sie mal bitte einer alleinerziehenden Mutter, die keinen Balkon, keinen Garten hat und mit ihren drei Kindern quasi jetzt monatelang in einer kleinen Wohnung war, dass die nicht sich mal sozusagen auch etwas Urlaub gönnen kann, den sie auch bezahlen kann, weil er in Deutschland vielleicht nicht finanzierbar ist. Sie sehen, wie viele Aspekte hier eine Rolle spielen, und ich nehme einfach auch diese Spaltung wahr, und man muss damit umgehen, man muss darauf eingehen. Solange eben auch eine sachliche Diskussion möglich ist, ist es wichtig, auch mit diesen Leuten zu diskutieren. Diese Ängste und die Befürchtungen und diese Nebenwirkungen quasi der Einschränkungen nehmen ja von Tag zu Tag zu, und das darf man wirklich auf keinen Fall negieren, sondern muss damit als Politiker eben umgehen.«
In der heutigen FAZ durfte Schmidt-Chanasit weite Teile seiner Argumentation noch einmal ausführen. Gehört werden wird er von den Verantwortlichen in ihrer Blase dennoch nicht.
Update 21.8.:
Es seien einige Aspekte nachgetragen, die Schmidt-Chanasit in der FAZ (Druckausgabe) vom 20.8. formuliert. Das Interview wird so eingeleitet: "Ein besseres Raumluftklima wäre wichtiger als die vielen zusätzlichen Putzaktionen, sagt der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit."
»Außerdem wäre es wichtig, Fenster zu reparieren; und wo das nicht möglich ist, mobile Einheiten zu installieren… Technisch ist das alles möglich, aber es ist eine Ressourcenfrage. Es wäre aber eine lohnende Investition über die Corona-Pandemie hinaus… Schließlich werden Milliarden in die Rettung von Unternehmen gesteckt. Unsere Kinder müssen Priorität genießen…
Die Schulen müssen so lange offen bleiben, wie es irgend geht…
Viel wichtiger als dauerndes Wischen und unsinniges Desinfizieren von Klassenbüchern und Stühlen ist das regelmäßige Händewaschen der Schüler und Lehrer.«
Der Virologe beklagt "Kapazitätsprobleme in den Gesundheitsämtern, die es unmöglich machen, Infektionsketten bis ins Detail zu verfolgen" und fordert schnellere und gezieltere Tests.
»Man könnte die gängigen PCR-Tests für fünf Euro anbieten, aber das müsste auch politisch gegen die Interessenvertreter durchgesetzt werden.«
Da sind wir nahe bei dem Grund, warum die Verantwortlichen auf ihn nicht hören werden. Spahn, Lauterbach und Co. sind nicht von Interessenvertretern abhängig. Sie sind selbst Lobbyisten der Pharma- und Gesundheitskonzerne.
Prof. Schmidt-Chanasit wird das so nicht sehen wollen, aber inhaltlich scheinen die Demonstrierenden gegen die Corona-Maßnahmen ihm näher zu sein als die politisch Verantwortlichen. Diese Akteure sollten in einen Dialog treten.
(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)