Mitte März hatte das Bundesinnenministerium ein geheimes Thesenpapier "Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen" erstellt. Erst auf öffentlichen Druck wurde es am 28.4. veröffentlicht. Nach Aussage des Ministeriums floß es "in die Diskussion über den weiteren Umgang mit der Corona-Pandemie" ein. Es wurde nie zurückgenommen. Update: Inzwischen gilt dieser Link.
abgeordnetenwatch.de faßt den Tenor so zusammen:
»… dass Behörden eine "Schockwirkung" erzielen müssten, um Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die menschliche Gesellschaft zu verdeutlichen. Es solle klar gemacht werden, dass bei einer Infizierung mit dem COVID-19-Virus eine Todesart das "qualvolle" Ersticken sein könne. Zudem seien auch Kinder Opfer des Virus und auch bleibende Folgeschäden bei einer Erkrankung seien nicht ausgeschlossen. Unter Bezug auf vorige Krisen solle zudem "historisch argumentiert" werden. "2019 = 1919 + 1929", heißt es in dem Papier. Im schlimmsten Fall drohe, "dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert".«
In dem Papier heißt es irreführend:
»Die meisten Virologen, Epidemiologien, Mediziner, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler beantworten die Frage "was passiert, wenn nichts getan wird" mit einem Worst-Case-Szenario von über einer Million Toten im Jahre 2020 – für Deutschland allein.«
»Was ist zu tun?
… Großflächiges Testen vermittelt den von Ausgangsbeschränkungen betroffenen Bürgern ein aktives Krisenhandeln des Staates… Dies erlaubt eine mit allen Bürgern geteilte Beobachtung der Ausbreitung und Eindämmung. Ein der Lage angemessenes und schrittweises Eingreifen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe wird dadurch erst ermöglicht und die Akzeptanz und Sinnhaftigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen erhöht. «
Wiederum an der Wahrheit vorbei wird behauptet:
»Die Lage wird sich dadurch verschlimmern, dass nicht nur intensiv-medizinische Betreuung von Schwerstkranken mit Beatmungsgeräten, sondern auch für mittelschwer Erkrankte eine Sauerstoffversorgung ambulant und stationär notwendig werden wird (das belegt China)...«
RKI-Schätzung einfach verdoppelt
Zahlen des RKI, das in der öffentlichen Diskussion stets als Referenz benannt wird, werden kurzerhand für das eigene Modell ignoriert. Die Sterblichkeitsrate wird vom RKI auf 0,56% geschätzt, hier nimmt man willkürlich 1,2% an. Das setzt sich fort bei den Kennziffern für eine Hospitalisierung (RKI 4,5%, hier 5%) und intensivmedizinische Betreuung (RKI 25%, hier 50%).
»Wir gehen davon aus, dass 5% der infizierten Personen hospitalisiert werden müssen und davon wiederum 30% eine intensivmedizinische Betreuung und weitere 20% mindestens eine Beatmung mittels entsprechenden Gerätschaften benötigen.«
Man bastelt weiter an einem Worst Case Szenario und präsentiert aufbauend auf vagen Vermutungen wissenschaftlich aussehende Grafiken, hier das Worst Case Szenario:
Als weiteres wird ein Szenario "Dehnung" angeboten mit nur " temporärer Überauslastung der Intensivkapazitäten".
»Durch diese zeitliche Dehnung wird jedoch der Ausnahmezustand deutlich länger anhalten als im oben genannten Worst Case, im Modell sieben Monate. Nur etwa 20% der Bevölkerung wäre dann mit dem Virus infiziert. Die Zahl der Todesfälle würde sich auf etwa 220.000 belaufen.«
Als erfolgversprechend wird das Szenario "Hammer and Dance“ dargestellt.
» Im vorliegenden Modell würden sich rund eine Million Menschen infizieren, aber nur etwa 12.000 versterben. Die Mortalität läge also bei 1,2%.«
Wie sieht es heute in Wirklichkeit aus? Im "Täglichen Lagebericht des RKI" vom 16.8. wird die Zahl von 223.453 "Fällen" gemeldet. Davon gelten 9.231 als verstorben "an und mit CoV‑2". Man mag die aktuellen Zahlen der Todesfälle bezweifeln, die Zahl der "Fälle" erreicht trotz aller Bemühungen jedenfalls noch nicht einmal ein Viertel des seinerzeitigen Szenarios.
Es geht um die Wirtschaft
Dem Papier geht es vor allem um die Funktionsfähigkeit der "Volkswirtschaft".
»Die Voraussetzung dafür ist, dass der überwiegende Teil aller bestehenden Unternehmen und Arbeitnehmer einsatzfähig ist und die Integrität des Gesamtsystems nicht in Frage gestellt wird… Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnten im Sinne einer "Kernschmelze" das gesamte System in Frage gestellt werden.
Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert.«
Anschaulich wird hier die Legende linker Lockdown-Befürworter widerlegt, wonach dem kapitalistischen System das Stilllegen weiter Teile der Wirtschaft abgerungen worden sei und der Staat den Schutz der "Arbeitnehmer" gegen das Kapital durchgesetzt hätte. Das Gegenteil ist der Fall.
Was also tun, fragt die Studie.
» Die einzige gangbare Möglichkeit dürfte daher die Einrichtung einer zweistufigen Strategie sein: Sie erfordert (i) die schnellstmöglich umgesetzte, strikte Unterdrückung der Neuansteckungen setzt, bis die Reproduktionsrate in der Nähe von 1 ist, und (ii) schließt ein umfassendes und konsequentes System des individuellen Testens und Isolierens der identifizierten Fälle an.
Das würde dem Rest der Volkswirtschaft wieder eine rasche Rückkehr in annähernden Normalbetrieb erlauben und die Aussicht eröffnen, dass diese Krise nicht größer wird als die Wirtschafts- und Finanzkrise 2009.«
Seit vielen Wochen pendelt die vom RKI geschätzte (!) Reproduktionszahl um 1. Selbst hunderttausende Tests pro Woche konnten sie nicht in die Höhe treiben. Das Isolieren wurde und wird hierzulande noch nie ernsthaft betrieben – mit Ausnahme von Schlachthofarbeitern und Geflüchteten.
Im weiteren stellt die Studie vier Handlungsszenarien vor. In allen kommen Menschen allenfalls als Faktoren der volkswirtschaftlichen Bewertung vor.
Im Kapitel
4. Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation
geht es dann zur Sache:
»Wir müssen wegkommen von einer Kommunikation, die auf die Fallsterblichkeitsrate zentriert ist…
Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:
1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.
2) "Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden": Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.
3) Folgeschäden: Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild. Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren. Eine viel häufigere Folge ist monate- und wahrscheinlich jahrelang anhaltende Müdigkeit und reduzierte Lungenkapazität, wie dies schon oft von SARS-Überlebenden berichtet wurde und auch jetzt bei COVID-19 der Fall ist, obwohl die Dauer natürlich noch nicht abgeschätzt werden kann.«
Testen, bis die Zahlen stimmen
»In der exponentiellen Phase kann man in europäischen Ländern von einer vorläufigen (naive) Fallsterblichkeitsrate (Tote geteilt durch bestätigte Fälle) von 1% ausgehen, wenn ein Grossteil aller Fälle durch Testen gefunden wird. Wenn die Fallsterblichkeit unter diesem Wert liegt, muss davon ausgegangen werden, dass die Anzahl der Toten nicht richtig gezählt wird. Wenn die Fallsterblichkeit darüber liegt, Tote * 100, so viele Fälle müssten wir finden. Um sie zu finden, braucht man unter sehr guten Bedingungen 20* mehr Tests als die Anzahl Fälle, die man finden möchte. Rechenbeispiel Deutschland Ende März: wir schätzen, die tatsächliche Anzahl der Toten liegt bei 500‑1000 (stark underreported). Das bedeutet, dass 50.000 bis 100.000 Fälle gefunden werden müssten. Wenn man einen Grossteil davon finden will, braucht man also z.B. 100.000 bis 200.000 Tests pro Tag im Verlauf von 10 Tagen, oder die Hälfte davon während 20 Tagen (wodurch der Zeitraum mit Ausgangsbeschränkungen aber länger wird und das Risiko eines Scheiterns grösser).
Sobald die geschätzte nötige Testkapazität erreicht ist, wird die Anzahl neu gefundener Fälle pro Tag zunächst hochschnellen. Wenn die Schätzung richtig war, kommt sie nach der Zeitspanne (z.B. nach 10 Tagen) wieder herunter. Wenn nicht, war die nötige Testkapazität unterschätzt und muss dringend hinaufgeschraubt werden, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.«
Maßnahmen mit Ewigkeitsgarantie
Genau das erleben wir nun. Um jeden Preis soll eine im voraus festgelegte Fallsterblichkeitsrate erreicht werden. Das Ganze erhält noch eine Ewigkeitsgarantie. Denn
»… bei relativ grossen Fallzahlen (mehr als ein paar Duzend pro Tag) oder wenn die Testkapazität nicht schnell genug hochgefahren werden kann, werden Massnahmen zur "sozialen Distanzierung" benötigt: Heimarbeit, Verbieten von Massenanlässen in Sport und Kultur, Schliessung der Schulen und Universitäten, Schliessung von selbst kleinen sozialen Anlässen wie Sportclubs, Schliessung von Restaurants und Bars, Schliessung von allen nicht lebenswichtigen Läden, bis hin zur Schliessung von allen nicht lebenswichtigen Betrieben.«
Wie eingangs gesagt: Das Ministerium hält diese Studie bis heute für einen gewichtigen Beitrag für die "Diskussion über den weiteren Umgang mit der Corona-Pandemie".
(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)