Repräsentativ-Studie: "Covid-19-Erkrankungsrisiko stark überschätzt"

Seit 1984 wird jähr­lich die Langzeitbefragung Sozio-oeko­no­mi­sches Panel (SOEP) durch­ge­führt. In die­sem Jahr wur­de sie ergänzt durch eine Befragung von 5.783 Menschen im Auftrag des Bundesbildungsministeriums zur "Erforschung von COVID-19 im Zuge des Ausbruchs von Sars-CoV‑2".

Daraus eini­ge Ergebnisse:

»Etwa 28 Prozent rech­ne­ten mit einem Erkrankungsrisiko von 50 und mehr Prozent…

Das lebens­be­droh­li­che Covid-19-Erkrankungsrisiko wird – soweit
sich das auf Grundlage der heu­ti­gen wis­sen­schaft­li­chen Erkenntnis sagen lässt – stark überschätzt… «

»Das Phänomen der gene­rel­len Überschätzung ist zwei­fels­oh­ne gesell­schaft­lich rele­vant. Es ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass erst die­se deut­li­che Überschätzung des Risikos die wün­schens­wer­te Folge mit sich bringt, dass die BürgerInnen moti­viert blei­ben, die Selbstkontrolle für Präventionsmaßnahmen auf­zu­brin­gen. Allerdings soll­te man mit so einer Schlussfolgerung äußert vor­sich­tig sein: Eine Überschätzung der Krankheitsrisiken kann auch schnell dazu füh­ren, dass sich der Eindruck einer gro­ßen Diskrepanz zwi­schen der sub­jek­ti­ven Einschätzung und dem tat­säch­li­chen Risiko ein­stellt. Diese wie­der­um kann zur einer Revision des sub­jek­ti­ven per­sön­li­chen „Krankheitsmodells“ füh­ren, in deren Folge die Risiken durch Covid-19 nicht mehr als bedeut­sam wahr­ge­nom­men und Präventionsmaßnahmen gar als unnö­tig, inva­siv und pater­na­li­stisch emp­fun­den wer­den. Deshalb soll­te die Politik aus der dia­gno­sti­zier­ten Überschätzung des Risikos kei­ne fal­schen Schlüsse zie­hen und die Überschätzung nicht als will­kom­me­nes Geschenk gutheißen.«

Obergrenze des Risikos bei etwa 0,6 Prozent

In einer aus­führ­li­chen Erörterung kom­men die Forscher zu die­ser Erklärung der Diskrepanz zwi­schen Erwartung und tat­säch­li­chem Risiko:

»Die viel­leicht ein­fach­ste und zugleich völ­lig trans­pa­ren­te Abschätzung des tat­säch­li­chen Risikos an COVID-19 zu erkran­ken könn­te dar­in bestehen, dass man annimmt, dass Befragte, die das Risiko einer lebens­be­droh­li­chen Krankheit durch das neue Corona-Virus benen­nen sol­len, sich an der Zahl der Personen ori­en­tie­ren, die posi­tiv auf COVID-19 gete­stet wur­den. Zwar sind dar­un­ter auch asym­pto­ma­tisch Infizierte, die offen­kun­dig nicht lebens­be­droh­lich erkrankt sind, aber ob eine Infektion nicht zur Corona-Erkrankung führt, weiß man erst im Nachhinein. Insofern wäre es ver­nünf­tig sich bei der objek­ti­ven Risikoeinschätzung an der Zahl der bekann­ten Infizierten zu ori­en­tie­ren (wenn­gleich die­se Zahl vom Ausmaß des Testens in einem Land abhängt). Folgt man die­ser Logik, dann könn­ten zu den knapp 200.000 bis­lang bekann­ten Infizierten bei einem Wiederaufflammen der Pandemie noch ein­mal so vie­le hin­zu­kom­men und die­se Abschätzung führt zu 400.000 lebens­be­droh­li­chen Erkrankungen. Die dürf­te die Obergrenze für das objek­ti­ve Ausmaß lebens­be­droh­li­cher Corona-Erkrankungen im Zeitraum vom Frühjahr 2020 bis zum Frühjahr 2021 sein. Es betrü­ge für erwach­se­nen Bevölkerung in Deutschland etwa 0,6 Prozent

Parallele: Angst vor Terroranschlägen

»Auch wenn das Risiko einer lebens­be­droh­li­chen Corona-Erkrankung nur geschätzt wer­den kann, steht doch fest, dass es bis­lang in Deutschland gering war. Die durch­schnitt­li­che Wahrscheinlichkeit, die die Befragten ange­ben, liegt durch­schnitt­lich rund 25 Prozentpunkte höher. Derartige gro­ße Diskrepanzen zwi­schen sta­ti­sti­schen Maßzahlen und der sub­jek­ti­ven Wahrnehmung und Bewertung von Risiken sind wohl bekannt Insbesondere auch das Phänomen, dass wir lebens­be­droh­li­che aber (sehr) klei­ne Risiken häu­fig über­schät­zen. So zeig­ten sich knapp 22 % der Bevölkerung 2017 ziem­lich oder sehr stark beun­ru­higt, per­sön­lich von einem ter­ro­ri­sti­schen Anschlag betrof­fen zu wer­den. Knapp 13 % äußern sogar eine sehr star­ke Beunruhigung. In ganz Westeuropa star­ben im sel­ben Jahr hin­ge­gen 81 Menschen an Terroranschlägen

Die enor­me Überschätzung ihres eige­nen lebens­be­droh­li­chen Erkrankungsrisikos durch die SOEP-Befragten soll­te auch vor dem Hintergrund gese­hen wer­den, dass auch ExpertInnen sich im Hinblick auf die Gefahr einer lebens­be­droh­li­chen Erkrankung durch COVID-19 kei­nes­wegs einig waren und sind.
Eine Ende März 2020 durch­ge­führ­te Befragung von 16 ExpertInnen durch die University of Massachusetts at Amherst ergab, dass für die USA die Spannweite der geschätz­ten Toten im Jahr 2020 von etwa 50.000 bis 2 Millionen reichte.«

(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)

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