Thesenpapier Nr. 7 von Prof. Schrappe & Co.

Das Papier ist überschrieben

»Sorg­fäl­ti­ge Inte­gra­ti­on der Imp­fung in eine umfas­sen­de Prä­ven­ti­ons­stra­te­gie
Impf­kam­pa­gne resi­li­ent gestal­ten und wis­sen­schaft­lich begleiten
Auf­klä­rung und Selbst­be­stim­mung beach­ten«

Als Mot­to wird ihm vorangestellt:

»„Was jetzt fehlt, ist eine Kom­mu­ni­ka­ti­on dar­über… ins­be­son­de­re ein gera­de­zu täg­li­cher und wöchent­li­cher Hin­weis dar­auf, dass das Ziel aller Maß­nah­men die Been­di­gung aller Maß­nah­men ist – das habe ich noch nicht gehört.“
Mar­kus Gabri­el, Phi­lo­so­sph, Uni­ver­si­tät Bonn In: Coro­na. Sicher­heit kon­tra Frei­heit. ARTE 10.11.2020, 20:15, Min. 52:16«

»Zusam­men­fas­sung

Die SARS-CoV‑2/­Co­ViD-Epi­de­mie hat sich, zumin­dest in Deutsch­land, zu einer hand­fes­ten Kri­se aus­ge­wach­sen, die Kon­se­quen­zen gra­vie­ren­der poli­ti­scher Fehl­ent­schei­dun­gen wer­den offenbar. 

Obwohl von Anfang an klar erkenn­bar war, dass es sich um eine „Epi­de­mie der Alten“ han­delt, und man alle Zeit gehabt hät­te, sich mit gut zuge­schnit­te­nen Prä­ven­ti­ons­pro­gram­men auf Herbst und Win­ter vor­zu­be­rei­ten (und die Inten­siv­ka­pa­zi­tä­ten zu sichern), ist nichts gesche­hen – außer einer sich per­p­etu­ie­ren­den Anein­an­der­rei­hung von Lock­downs. Die Sterb­lich­keit der über 70-Jäh­ri­gen liegt Ende 2020 bei über 88% der CoViD-19-beding­ten Gesamt­sterb­lich­keit (genau bei 31.402 Todes­fäl­len in die­ser Alters­grup­pe von ins­ge­samt 35.452), und die Ver­ant­wort­lich­keit hier­für liegt nicht in der Bio­lo­gie eines Erre­gers begrün­det, son­dern in der Ver­ant­wor­tung der poli­tisch Handelnden. 

In einer sol­chen Situa­ti­on fällt es nicht leicht, eine dif­fe­ren­zier­te Stel­lung­nah­me zu einem The­ma wie der Imp­fung zu ver­fas­sen, das nur einer dif­fe­ren­zier­ten Betrach­tung zugäng­lich ist. Die Autoren­grup­pen sieht jedoch hier­zu einen gewich­ti­gen Grund, denn es droht wie­der­um die Reduk­ti­on auf einen ledig­lich klei­nen Aus­schnitt des The­mas. So wie die Rezep­ti­on der Coro­na-Kri­se als eines „apo­li­ti­schen“ bio­lo­gi­schen Ereig­nis­ses, den man mit täg­li­chen Zah­len­wer­ten bei­zu­kom­men meint, eine unge­mei­ne Miss­ach­tung der epi­de­mio­lo­gi­schen (und his­to­ri­schen) Grund­ein­sicht dar­stellt, dass jeg­li­che Epi­de­mie ein sozia­les Ereig­nis (mit bio­lo­gi­schem Aus­lö­ser) dar­stellt, so weit ist die Ansicht von der Rea­li­tät ent­fernt, eine Impf­kam­pa­gne sei letzt­lich nur ein „klei­ner Piks“ in den Oberarm. 

Das hier vor­ge­leg­te 7. The­sen­pa­pier geht daher von einer ein­fa­chen, aber weit­rei­chen­den Begriffs­klä­rung aus: die Imp­fung (umfas­send Ent­wick­lung, Prü­fung und Appli­ka­ti­on eines oder meh­re­rer Impf­stof­fe) ist klar von der Impf­kam­pa­gne zu tren­nen, die die gesam­te Umset­zung im All­tag der medizinisch/pflegerischen Ver­sor­gung und des gesell­schaft­li­chen Umfel­des betrifft. Eben­so­we­nig wie eine Epi­de­mie aus der Per­spek­ti­ve von Gen­son­de und Com­pu­ter­mo­del­len zu ver­ste­hen ist, ist es bei der Eta­blie­rung und Bewäl­ti­gung einer Impf­kam­pa­gne – einer der gewal­tigs­ten Unter­neh­mun­gen, der sich eine Gesell­schaft stel­len kann – nicht aus­rei­chend, einen Impf­stoff zur Vefü­gung zu haben, son­dern man muss die viel­fäl­ti­gen, kon­flikt­rei­chen, grund­rechts­be­zo­ge­nen und ethi­schen Kon­flik­te in der Orga­ni­sa­ti­on, Ver­mitt­lung, Erfolgs­kon­trol­le, über­haupt in der Ziel­de­fi­ni­ti­on einer sol­chen Kam­pa­gne zum Gegen­stand der Über­le­gun­gen machen. 

Zum Gegen­stand der Über­le­gun­gen, und damit zum Gegen­stand des gesell­schaft­li­chen Dis­kur­ses: das The­sen­pa­pier hat wie­der sei­ne Drei­tei­lung von Epi­de­mio­lo­gie, Prä­ven­ti­on und Gesell­schafts­po­li­tik ange­nom­men, und des­halb soll­te man mit der Lek­tü­re viel­leicht beim letz­ten Kapi­tel begin­nen, dort wo zwei Bei­trä­ge den gesell­schafts­po­li­ti­schen Back­ground beleuch­ten. Durch die Epi­de­mie ist es zu einer Frag­men­tie­rung der Gesell­schaft in Grup­pen („Clans“) gekom­men, die sich in ers­ter Linie in der Abgren­zung gegen­über dem „Außen“ sta­bi­li­sie­ren und das Inter­es­se an der Inte­gra­ti­on dis­kor­dan­ter, „nicht pas­sen­der“ Mei­nun­gen ver­lo­ren haben. Es wird die Ten­denz sicht­bar, der einen Sei­te exklu­siv Ver­nunft und wis­sen­schaft­li­che Fun­die­rung zuzu­spre­chen, der ande­ren Sei­te hin­ge­gen Unver­nunft und den Hang zur Ver­schwö­rungs­theo­rie. Die dabei ins Spiel kom­men­de Vor­stel­lung von Wis­sen­schaft als geschlos­se­ne Fak­ten­ord­nung mit direkt ableit­ba­ren Hand­lungs­an­wei­sun­gen ruht auf einem szi­en­tis­ti­schen (und solu­tio­nis­ti­schen) Miss­ver­ständ­nis des­sen, was Wis­sen­schaft dar­stellt – es ist näm­lich das kon­sti­tu­ti­ve Prin­zip des sys­te­ma­ti­schen Zwei­fels, das Wis­sen­schaft als plu­ra­les Wis­sens­re­gime aus­macht. Die­ses Miss­ver­ständ­nis erfüllt eine rela­tiv prä­zi­se zu benen­nen­de poli­ti­sche Funk­ti­on: näm­lich die der argu­men­ta­ti­ven Schlie­ßung und der Abwehr bzw. Abwer­tung von Kri­tik. Damit begibt sich die libe­ra­le Gesell­schaft einer ihrer wert­volls­ten Res­sour­cen – dem kri­ti­schen öffent­li­chen Dis­kurs. Ver­fan­gen in den bekann­ten media­len Auf­merk­sam­keits­zy­klen und der bis­he­ri­gen Kurz­at­mig­keit der poli­ti­schen Maß­nah­men hat sich die wis­sen­schafts­jour­na­lis­ti­sche Bericht­erstat­tung zur Coro­na-Pan­de­mie bis­lang nur sel­ten von sol­chen ver­ein­fa­chen­den Zuschrei­bun­gen frei gezeigt. In pra­xi hat die­se Ein­engung und Stö­rung des Dis­kur­ses zu einer Ein­engung der Pro­blem­lö­sun­gen und zur Ein­di­men­sio­na­li­tät des Vor­ge­hens geführt, ein schwer­wie­gen­der Man­gel, gera­de im Hin­blick auf die Pro­blem­lö­sungs­komp­te­tenz, die wir heu­te zur Bewäl­ti­gung der Coro­na­Kri­se und spe­zi­ell zur erfolg­rei­chen Durch­füh­rung einer Impf­kam­pa­gne drin­gend brauchen. 

Die epi­de­mio­lo­gi­sche Situa­ti­on ist wei­ter­hin bedrü­ckend. Unter den fort­ge­setz­ten Lock­downs scheint sich in meh­re­ren Län­dern eine täg­li­che Mel­de­ra­te von 20 bis 30/100.000 Ein­woho­ner [so im Ori­gi­nal, AA] ein­zu­stel­len, was unter der Annah­me einer Dun­kel­zif­fer von 5 in Deutsch­land etwa der Zahl von 1 Mill. Neu­in­fi­zier­ten pro Woche ent­spricht. Die Risi­ken der Infek­ti­on sind jedoch extrem ungleich ver­teilt, die rela­ti­ve CoViD-19-asso­zi­ier­te Sterb­lich­keit (bezo­gen auf die Grö­ße der Alters­ko­hor­ten) liegt in der Alters­ko­hor­te über 90 Jah­re in der 52. KW bei 17%, zwi­schen 80 und 89 bei 13% sowie zwi­schen 70 und 79 Jah­ren bei 6,5%, dem­ge­gen­über für die unter 40jährigen nur zwi­schen 0,002 und 0,09%. Bevor wie­der Ein­zel­fall­be­rich­te vor­ge­tra­gen wer­den, die das Gegen­teil bewei­sen sol­len: natür­lich gibt es auch Todes­fäl­le und schwe­re Krank­heits­ver­läu­fe unter den Jün­ge­ren, aber in der Abwä­gung in einer epi­de­mi­schen Situa­ti­on, in der guter Rat extrem teu­er ist, muss es Grund­la­ge des Han­delns sein, dort anzu­set­zen, wo das Pro­blem – mit Abstand! – am größ­ten ist. Und: wenn wir meh­re­re Mil­lio­nen von Per­so­nen mit ande­ren Erkran­kun­gen mit ähn­li­cher Alters­ver­tei­lung zum Ver­gleich her­an­zie­hen – auch dort gibt es Opfer unter den Jün­ge­ren, das macht (hier wäre der Begriff rich­tig) die „Bio­lo­gie“ einer (Infektions-)Erkrankung aus. 

Der Mit­tel- und damit auch Schwer­punkt­teil die­ses 7. Papiers ist in Fort­set­zung von The­sen­pa­pier 5 wie­der­um der Prä­ven­ti­on gewid­met. Die zen­tra­le Aus­sa­ge geht von einer Ein­heit von nicht-phar­ma­ko­lo­gi­scher Prä­ven­ti­on in all­ge­mei­ner und spe­zi­fi­scher (Ziel­grup­pen-ori­en­tier­ter) Aus­prä­gung auf der einen Sei­te und Imp­fung bzw. Impf­kam­pa­gne auf der ande­ren Sei­te aus: „sorg­fäl­ti­ge Inte­gra­ti­on der Imp­fung in eine umfas­sen­de Prä­ven­ti­ons­stra­te­gie“, so der Unter­ti­tel des Papiers. Nur in Kom­bi­na­ti­on der Ansät­ze kann eine Wir­kung erzielt wer­den, die Imp­fung allein kann es nicht rich­ten, allein schon wegen der Per­so­nen, die ent­we­der eine Kon­tra­in­di­ka­ti­on gegen die Imp­fung auf­wei­sen, bei denen die Imp­fung kei­nen Schutz zu Fol­ge hat oder die eine Imp­fung ableh­nen. Die bis­he­ri­gen Prä­ven­ti­on­maß­nah­men müs­sen wei­ter im Spiel blei­ben und vor allem hin­sicht­lich des Schut­zes der vul­ner­ablen Bevöl­ke­rungs­grup­pen lau­fend ange­passt wer­den; sie müs­sen aller­dings auch mit dem Impf­erfolg abge­stimmt wer­den, um einen Ver­lust der Moti­va­ti­on zu vermeiden. 

Beson­ders deut­lich wird dies in den Pfle­ge­hei­men. Am 5. Janu­ar 2021 waren allein in den Pfle­ge­hei­men kumu­la­tiv 10.149 CoViD-19-asso­zi­ier­te Todes­fäl­le auf­ge­tre­ten, ent­spre­chend 28% aller CoViD-19-Todes­fäl­le in Deutsch­land (n = 36.537 Todes­fäl­le). Auch mit Start der Imp­fun­gen sind daher par­al­lel­lau­fend alle prä­ven­ti­ven Maß­nah­men in Pfle­ge- und Behin­der­ten­ein­rich­tun­gen, in Kli­ni­ken und im ambu­lan­ten Ver­sor­gungs­set­ting – bis nach einer Durch­imp­fung ent­spre­chen­de Erkennt­nis­se vor­lie­gen – durch­zu­füh­ren. Dazu gehö­ren neben den AHA Regeln das Tra­gen von FFP2-Mas­ken, das regel­haf­te Tes­ten vor allem von ein­tref­fen­den Besu­chern, Beschäf­tig­ten und Leis­tungs­er­brin­gern im jewei­li­gen Ver­sor­gungs­be­reich. Spe­zi­fi­sche Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men sind im The­sen­pa­pier 5.0 dar­über hin­aus beschrie­ben und die­nen der Risi­ko­vor­sor­ge bei vul­ner­ablen Grup­pen und ent­spre­chen­den Insti­tu­tio­nen. Ent­spre­chen­de Unter­stüt­zung der Hei­me mit Per­so­nal und finan­zi­el­len Mit­teln ist unverzichtbar. 

Zur Fra­ge Wir­kung einer Imp­fung sind natür­lich die Wirk­sam­keits­da­ten aus den Zulas­sungs­stu­di­en von prio­ri­tä­rer Bedeu­tung. Wich­tig ist die Tat­sa­che, dass die End­punk­te der vor­lie­gen­den Stu­di­en sich nicht auf die Infek­ti­on mit SARS-CoV‑2/­Co­ViD oder die Infek­tio­si­tät bezie­hen, son­dern auf das Auf­tre­ten einer sym­pto­ma­ti­schen Erkran­kung bei infi­zier­ten Per­so­nen. Die Zulas­sungs­stu­die für den BNT162­b2-Impf­stoff von BioNTech/Pfizer wur­de mit 43.548 Per­so­nen durch­ge­führt (21.720 Ver­um, 21.728 Pla­ce­bo) und zeig­te 162 CoViD-19 sym­pto­ma­ti­sche Infek­tio­nen in der Pla­ce­bo­grup­pe gegen­über 8 sym­pto­ma­ti­schen Infek­tio­nen in der Ver­um­grup­pe. Bei der Aus­wer­tung der Ergeb­nis­se für die über 65 Jäh­ri­gen wird die Wirk­sam­keit noch mit über 94 Pro­zent ange­ge­ben, bei noch älte­ren Per­so­nen sinkt die Wirk­sam­keit, zudem sind zu weni­ge Per­so­nen betei­ligt, um exak­te Aus­sa­gen tref­fen zu kön­nen. Der Impf­stoff mRNA-1273 von Moder­na (30.420 Teil­neh­mer, 1:1 ran­do­mi­siert) zeig­te 185 sym­pto­ma­ti­sche Infek­tio­nen in der Pla­ce­bo­grup­pe gegen­über 11 in der Ver­um­grup­pe, schwe­re Erkran­kung­ver­läu­fe (z.B. mit Hos­pi­ta­li­sie­rung) tra­ten bei kei­nem Erkrank­ten in der Ver­um- und bei 30 Erkrank­ten in der Pla­ze­bo­grup­pe auf. Anga­ben wie „95%iger Schutz“ bezie­hen sich also auf das Ver­hält­nis von sym­pto­ma­ti­schen Ver­läu­fen bei infi­zier­ten Per­so­nen zwi­schen Ver­um (8 bzw. 11) und Pla­ze­bo (162 bzw. 185), nicht auf das Auf­tre­ten einer rei­nen Infek­ti­on mit SARS-CoV‑2/­Co­ViD (oder gar die Infek­tio­si­tät). Bei Infek­ti­on mit SARS-CoV‑2/­Co­ViD haben Geimpf­te also ein 20mal nied­ri­ge­res Risi­ko einer sym­pto­ma­ti­schen CoVi­D19-Erkran­kung als nicht Geimpf­te. Die wis­sen­schaft­li­chen Kom­men­ta­re zu den Zulas­sungs­stu­di­en kon­zen­trier­ten sich auf die Dar­stel­lung der Wirk­sam­keit und die bestehen­den Defi­zi­te in der Beur­teil­bar­keit von uner­wünsch­ten Wir­kun­gen ein­schließ­lich gra­vie­ren­der all­er­gi­scher Reak­tio­nen, die eine metho­disch „belast­ba­re“ und von den phar­ma­zeu­ti­schen Her­stel­lern unab­hän­gi­ge Begleit- und Ver­sor­gungs­for­schung unver­zicht­bar machen. Dabei soll­ten die in der Zwi­schen­zeit eta­blier­ten und bewähr­ten Ana­ly­sen auf Basis der Sekun­där­da­ten von Kran­ken­kas­se als wich­ti­ge und ver­füg­ba­re Res­sour­ce ein­ge­bun­den wer­den. Die Kran­ken­ver­si­che­rungs­kar­te kann dabei für die Iden­ti­fi­ka­ti­on der Geimpf­ten und den ggf. behand­lungs­be­düf­ti­gen Fol­gen der Imp­fung eine rele­van­te Hil­fe sein, da in den Kas­sen­da­ten die jewei­li­gen ICDs doku­men­tiert sind. Die deut­sche Ärz­te­schaft war bis­her, soweit es Neben­wir­kun­gen von Arz­nei­mit­tel betrifft, nach bis­he­ri­gen Erfah­run­gen nicht sehr mel­de­wil­lig. Die­se Mel­de­be­reit­schaft muss deut­lich durch Über­zeu­gungs­ar­beit und ggfls. Ver­gü­tung ver­bes­sert werden. 

Wenn man sich von der Imp­fung der Gestal­tung einer Impf­kam­pa­gne zuwen­det, ste­hen natür­lich in ers­ter Linie die orga­ni­sa­to­ri­sche Umset­zung und die Lösung von Kon­flik­ten über den Zugang und die Fair­ness der Ver­tei­lung im Vor­der­grund. Die Impf­be­reit­schaft der deut­schen Bevöl­ke­rung mit COVID-10-Impf­stoff ist nicht sta­bil und kann kurz­fris­tig von emo­tio­na­len und media­len Ein­flüs­sen beein­flusst wer­den. Es bedarf einer umfas­sen­den sach­li­chen und offe­ne­ren Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gne, damit mög­lichst vie­le Per­so­nen eine infor­mier­te Ent­schei­dung tref­fen kön­nen. Die Imp­fung ist, zumin­dest in der ers­ten Pha­se, aus­schließ­lich eine spe­zi­fi­sche Prä­ven­ti­ons­maß­nah­me für beson­ders infek­ti­ons­an­fäl­li­ge Per­so­nen­grup­pen (Indi­vi­du­al­schutz). Eine bevöl­ke­rungs­pro­tek­ti­ve Wir­kung (Gemein­schafts­schutz) ist bis heu­te nicht gesi­chert und soll­te von daher nicht als Moti­va­ti­on für die Imp­fung öffent­lich betont wer­den. Es geht inso­fern um die Schutz­wir­kung des Ein­zel­nen, (noch) nicht um den der Gesell­schaft. Impf­stoff darf nur nach kla­ren wis­sen­schaft­lich begrün­de­ten Kri­te­ri­en prio­ri­siert wer­den. Ein „frei­er Markt“ für Impf­stoff wür­de beson­ders in der Früh­pha­se der Impf­kam­pa­gne den gesell­schaft­li­chen Kon­sens extrem gefähr­den und ist mit staat­li­chen Mit­tel a prio­ri zu unter­bin­den. Die Per­so­nen­grup­pen der höchs­ten Prio­ri­tät erfor­dern eine beson­de­re logis­ti­sche und kom­ple­xe Impf­or­ga­ni­sa­ti­on. Einem Ange­hö­ri­gen pro Bewohner/In in Alten­pfleg­ein­rich­tun­gen ist eben­falls eine Imp­fung anzu­bie­ten. Mit wei­ter­ge­hen­den Dif­fe­ren­zie­rungs­not­wen­dig­kei­ten und einem deut­lich höhe­ren Zeit­auf­wand ist zu rechnen. 

Ein wei­te­rer zen­tra­ler Punkt ist die Auf­klä­rung zur Imp­fung. Die indi­vi­du­el­le Auf­klä­rung der zu Imp­fen­den ist ein wich­ti­ger Pro­zess und Teil der not­wen­di­gen all­ge­mei­nen Infor­ma­ti­on und Bera­tung der Men­schen über die Impf­stof­fe. Auf­klä­rung ist ein Teil der Legi­ti­ma­ti­on der Imp­fung und ihrer Pra­xis. Der Umfang und der Inhalt der Auf­klä­rung über den zu appli­zie­ren­den Impf­stoff sind abhän­gig von unse­rem Wis­sen über sei­ne Eigen­schaf­ten. Die Auf­klä­rung ist Teil der ärzt­li­chen Behand­lung = Imp­fung auf ver­trag­li­cher Basis. Jede zu imp­fen­de Per­son hat Anspruch auf die per­sön­li­che indi­vi­du­el­le Auf­klä­rung im Gespräch mit einer Ärz­tin oder einem Arzt. Merkblätter/Formulare oder Vide­os über die Impf­stof­fe kön­nen das indi­vi­du­el­le Gespräch mit dem Arzt nicht erset­zen, son­dern bes­ten­falls vor­be­rei­ten. Ein Ver­zicht auf die per­sön­li­che Auf­klä­rung ist nur aus­drück­lich mög­lich, nicht allein in einem For­mu­lar. Mit der Ent­wick­lung der Kennt­nis­se über die Eigen­schaf­ten der Impf­stof­fe in der Anwen­dungs­pra­xis hat sich die Auf­klä­rung an die­se Kennt­nis­se anzu­pas­sen. Die Auf­klä­rung ist ein dyna­mi­scher Pro­zess. Nicht nur die Erkennt­nis­se aus dem Impf­stoff­stu­di­en sind rele­vant, son­dern auch alle neu­en Erkennt­nis­se aus der Anwen­dung der Impf­stof­fe in der Pra­xis der Impfung. 

Die orga­ni­sa­to­ri­sche Umset­zung und die Ein­be­zie­hung der Pati­en­ten z.B. im Rah­men der Auf­klä­rung sind wich­ti­ge Bestand­tei­le der Impf­kam­pa­gne. Die­se ist als „kom­ple­xe Mehr­fach­in­ter­ven­ti­on“ zu ver­ste­hen: die Kam­pa­gne selbst besteht aus zahl­rei­chen Ein­zel­ele­men­ten und ist in ein brei­tes Spek­trum von Ein­fluss­fak­to­ren (Kon­text) ein­ge­bun­den. Eine Impf­kam­pa­gne ist kein Selbst­läu­fer, sie kann auf­grund zunächst ver­nach­läs­sig­bar erschei­nen­den Ereig­nis­sen oder Ver­än­de­run­gen der Hal­tung von Ein­zel­nen oder Grup­pen Scha­den neh­men oder gar schei­tern. Zusätz­lich zur o.g. Ana­ly­se von Out­co­me-Daten zum Impf­schutz und Uner­wünsch­ten Wir­kun­gen bedarf es daher einer zeit­na­hen Begleit­for­schung, die nicht nur bio­me­di­zi­ni­sche Fak­to­ren (Immu­ni­täts­sta­tus, Erkran­kun­gen, Ent­wick­lung von Muta­tio­nen etc.) in den Blick nimmt (so wich­tig die­se sind), son­dern ganz zen­tral sozi­al- und geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Per­spek­ti­ven ein­nimmt. Im Sin­ne der Imple­men­tie­rungs­for­schung soll­te eine Begleit­for­schung von vor­ne­her­ein in die Pla­nung der Kam­pa­gne inte­griert wer­den, denn so dürf­te man in der Lage sein, Früh­warn­zei­chen für Stö­run­gen der Kam­pa­gne oder sogar ein dro­hen­des Schwei­tern [so im Ori­gi­al, AA] auf­zu­de­cken. In dem vor­lie­gen­den The­sen­pa­pier wer­den ins­ge­samt 10 Kern­an­for­de­run­gen an ein sol­ches Pro­gramm formuliert. 

Wir stel­len wei­ter­hin ein metho­di­sches Gerüst vor, das die Wir­kung einer Impf­kam­pa­gne zu pro­gnos­ti­zie­ren hilft. Natür­lich ist die Wir­kung der Imp­fung, so wie in den Zulas­sungs­stu­di­en beschrie­ben (und noch beschrie­ben wer­den muss), ein wich­ti­ger Bestand­teil, aber min­des­tens eben­so wich­tig ist die Erreich­bar­keit der Bevöl­ke­rung durch die Impf­kam­pa­gne und die infor­mier­te Ent­schei­dung für oder gegen die Imp­fung durch die­je­ni­gen, die sich ent­spre­chend bera­ten las­sen. Die Eva­lua­ti­on der Wir­kung der Impf­stof­fe erfolgt dabei nach Maß­ga­be der Evi­denz-basier­ten Medi­zin und den Grund­sät­zen der Durch­füh­rung kli­ni­scher Stu­di­en. Die Eva­lua­ti­on der Impf­kam­pa­gne ein­schließ­lich aller Umge­bungs­fak­to­ren ist (noch) auf­wen­di­ger. Hier sind zum Bei­spiel auch die „Impf­ver­wei­ge­rer“ ein­zu­schlie­ßen, denn jede Impf­kam­pa­gne muss mit der Ableh­nung einer Imp­fung rech­nen und dies in die Beur­tei­lung der Gesamt­in­ter­ven­ti­on ein­be­zie­hen. Eine Imp­fung, die in der Stu­die hoch­gra­dig effek­tiv erscheint, kann im All­tag der Umset­zung durch Feh­ler in der Kom­mu­ni­ka­ti­on oder durch bestimm­te Uner­wünsch­te Wir­kun­gen mit dar­aus resul­tie­ren­der hoch­gra­di­ger Ableh­nungs­quo­te wir­kungs­los blei­ben. Statt der bio­me­di­zi­nisch her­ge­lei­te­ten Wirk­sam­keit spie­len hier auch Fra­gen der Ein­stel­lung und „Hal­tung“ eine gro­ße Rol­le. Man weiß aus ande­ren Zusam­men­hän­gen (z.B. Hän­de­des­in­fek­ti­on im Kran­ken­haus zur Prä­ven­ti­on noso­ko­mia­ler Infek­tio­nen) sehr genau, wel­che zen­tra­le Rol­le die­ser Ein­stel­lungs­ebe­ne zukommt. 

Es ist also wün­schens­wert, eine Impf­kam­pa­gne so zu pla­nen, dass sie durch eine hohe Resi­li­enz aus­ge­zeich­net ist, also einer mög­lichst gro­ßen Elas­ti­zi­tät gegen­über Stö­run­gen und Kon­flik­ten, die ihren Erfolg schmä­lern kön­nen. Drei Anfor­de­run­gen las­sen sich ableiten: 

A die Kohä­renz der Ein­zel­fak­to­ren ist zu fördern; 

B die Ein­zel­fak­to­ren sind an einem Rah­men­kon­zept (Ziel und Stra­te­gie) auszurichten; 

C eine iso­lier­te Erfolgs­kon­trol­le über Ein­zel­fak­to­ren ist nicht sinn­voll bzw. soll­te ver­mie­den werden. 

Die Ein­zel­fak­to­ren, aus denen sich eine Impf­kam­pa­gne zusam­men­setzt, las­sen sich zunächst in 7 gro­ße Grup­pen unter­tei­len (s. Kas­ten S. 89). Sie sind jedoch nicht als sta­tisch anzu­se­hen, son­dern inter­agie­ren, ver­än­dern sich und unter­lie­gen mul­ti­plen Rück­kopp­lungs­ef­fek­ten, die am bes­ten durch das Through­put-Modell beschrie­ben wer­den kön­nen (s. Kap. 3.4.2). Die ent­schei­den­de Auf­ga­be für die Pla­nung einer Impf­kam­pa­gne besteht dar­in, die genann­ten Ein­zel­fak­to­ren schlüs­sig mit­ein­an­der zu ver­bin­den und ent­spre­chend der Ziel­vor­stel­lung auszurichten. 

Die Dar­stel­lung eines Rah­men­kon­zep­tes stellt die zen­tra­le Auf­ga­be der poli­ti­schen Füh­rung dar. Die­ses Kon­zept muss die For­mu­lie­rung eines Zie­les und der Stra­te­gie umfas­sen. Unter den drei Mög­lich­kei­ten „Durch­marsch“, Inte­gra­ti­on in ein umfas­sen­des Prä­ven­ti­ons­kon­zept unter dem Begriff der „Sta­bi­len Kon­trol­le“ und einer Mini­mal­lö­sung (begrenzt auf Risi­ko­grup­pen) sticht die Sta­bi­le Kon­trol­le als sinn­volls­te Stra­te­gie her­vor. Zunächst impo­niert die Imp­fung bzw. Impf­kam­pa­gne als Ver­stär­kung der Ziel­grup­pen­ori­en­tier­ten, spe­zi­fi­schen Prä­ven­ti­on, wird im Ver­lauf aber immer mehr als all­ge­mei­ne Prä­ven­ti­ons­maß­nah­me („für alle“) ver­stan­den wer­den. Von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist die Lösung von Ziel- und Umset­zungs­kon­flik­ten, ins­be­son­de­re hin­sicht­lich der Anrei­ze, der Moti­va­ti­on, der Kon­flik­te mit ande­ren gesell­schaft­li­chen Zie­len (z.B. Daten­schutz), der Inte­gra­ti­on von Nicht-Geimpf­ten und in der Kom­mu­ni­ka­ti­on von Wir­kung und uner­wünsch­ten Wirkungen. 

Eine Erfolgs­kon­trol­le der Impf­kam­pa­gne anhand eines Ein­zel­kri­te­ri­ums (wie z.B. der Impf­quo­te) ist drin­gend zu ver­mei­den, da sie stör­an­fäl­lig ist und u.U. zu fal­scher Sicher­heit Anlass gibt. Die Impf­quo­te kann z.B. bei früh­zei­ti­ger Imp­fung jün­ge­rer Per­so­nen sehr rasch gestei­gert wer­den, obgleich die Mor­bi­di­tät und Mor­ta­li­tät dadurch nicht güns­tig beein­flusst wird. Die sinn­vol­le­re Alter­na­ti­ve besteht in der Nut­zung eines mul­ti­di­men­sio­na­len Scores, wie er hier bei­spiel­haft vor­ge­schla­gen wird (S. 95). 

Eine kom­ple­xe Mehr­fach­in­ter­ven­ti­on wie eine Impf­kam­pa­gne ist eine pri­mär sozia­le Inter­ven­ti­on und basiert auf meh­re­ren Vor­aus­set­zun­gen, von denen die trans­pa­ren­te For­mu­lie­rung rea­lis­ti­scher Zie­le an ers­ter Stel­le steht. Die ver­läss­li­che Rück­kopp­lung des Erfol­ges und ein Füh­rungs­ver­ständ­nis, das sich als Rah­men­ge­ber für die Peri­phe­rie ver­steht und fal­sche bzw. vor­zei­ti­ge Fest­le­gun­gen ver­mei­det, sind wei­te­re Vor­aus­set­zun­gen. Die Skiz­zie­rung von sol­chen stra­te­gi­schen Zie­len ergibt einen kla­ren Befund: die Imp­fung der Hoch­ri­si­ko­grup­pen wird kurz-mit­tel­fris­tig zu einer Redu­zie­rung der Mor­ta­li­tät und Mor­bi­di­tät, aber nicht der Mel­de­ra­ten füh­ren: selbst bei Annah­me einer hohen Wirk­sam­keit der Imp­fung auf die Rate der Infek­tio­nen (die Zulas­sungs­stu­di­en bezie­hen sich nur auf die sym­pto­ma­ti­schen Ver­läu­fe bei bereits Infi­zier­ten) wer­den in der ers­ten März­wo­che nur rund 20.000 von ins­ge­samt 150.000 gemel­de­ten Infek­tio­nen (13%) ver­hin­dert (Bezug KW 51/2020), in den Alters­ko­hor­ten über 80 Jah­re wer­den aber 3.200 von 4.700 Ster­be­fäl­len (68%) ver­hin­dert. Dies ist ein wei­te­res Argu­ment dafür, die Mel­de­ra­te und die dar­aus abge­lei­te­ten Grenz­wer­te im Begrün­dungs­sze­na­rio der poli­ti­schen Füh­rung zu relativieren. «

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