Das Papier ist überschrieben
»Sorgfältige Integration der Impfung in eine umfassende Präventionsstrategie
Impfkampagne resilient gestalten und wissenschaftlich begleiten
Aufklärung und Selbstbestimmung beachten«
Als Motto wird ihm vorangestellt:
»„Was jetzt fehlt, ist eine Kommunikation darüber… insbesondere ein geradezu täglicher und wöchentlicher Hinweis darauf, dass das Ziel aller Maßnahmen die Beendigung aller Maßnahmen ist – das habe ich noch nicht gehört.“
Markus Gabriel, Philososph, Universität Bonn In: Corona. Sicherheit kontra Freiheit. ARTE 10.11.2020, 20:15, Min. 52:16«
»Zusammenfassung
Die SARS-CoV‑2/CoViD-Epidemie hat sich, zumindest in Deutschland, zu einer handfesten Krise ausgewachsen, die Konsequenzen gravierender politischer Fehlentscheidungen werden offenbar.
Obwohl von Anfang an klar erkennbar war, dass es sich um eine „Epidemie der Alten“ handelt, und man alle Zeit gehabt hätte, sich mit gut zugeschnittenen Präventionsprogrammen auf Herbst und Winter vorzubereiten (und die Intensivkapazitäten zu sichern), ist nichts geschehen – außer einer sich perpetuierenden Aneinanderreihung von Lockdowns. Die Sterblichkeit der über 70-Jährigen liegt Ende 2020 bei über 88% der CoViD-19-bedingten Gesamtsterblichkeit (genau bei 31.402 Todesfällen in dieser Altersgruppe von insgesamt 35.452), und die Verantwortlichkeit hierfür liegt nicht in der Biologie eines Erregers begründet, sondern in der Verantwortung der politisch Handelnden.
In einer solchen Situation fällt es nicht leicht, eine differenzierte Stellungnahme zu einem Thema wie der Impfung zu verfassen, das nur einer differenzierten Betrachtung zugänglich ist. Die Autorengruppen sieht jedoch hierzu einen gewichtigen Grund, denn es droht wiederum die Reduktion auf einen lediglich kleinen Ausschnitt des Themas. So wie die Rezeption der Corona-Krise als eines „apolitischen“ biologischen Ereignisses, den man mit täglichen Zahlenwerten beizukommen meint, eine ungemeine Missachtung der epidemiologischen (und historischen) Grundeinsicht darstellt, dass jegliche Epidemie ein soziales Ereignis (mit biologischem Auslöser) darstellt, so weit ist die Ansicht von der Realität entfernt, eine Impfkampagne sei letztlich nur ein „kleiner Piks“ in den Oberarm.
Das hier vorgelegte 7. Thesenpapier geht daher von einer einfachen, aber weitreichenden Begriffsklärung aus: die Impfung (umfassend Entwicklung, Prüfung und Applikation eines oder mehrerer Impfstoffe) ist klar von der Impfkampagne zu trennen, die die gesamte Umsetzung im Alltag der medizinisch/pflegerischen Versorgung und des gesellschaftlichen Umfeldes betrifft. Ebensowenig wie eine Epidemie aus der Perspektive von Gensonde und Computermodellen zu verstehen ist, ist es bei der Etablierung und Bewältigung einer Impfkampagne – einer der gewaltigsten Unternehmungen, der sich eine Gesellschaft stellen kann – nicht ausreichend, einen Impfstoff zur Vefügung zu haben, sondern man muss die vielfältigen, konfliktreichen, grundrechtsbezogenen und ethischen Konflikte in der Organisation, Vermittlung, Erfolgskontrolle, überhaupt in der Zieldefinition einer solchen Kampagne zum Gegenstand der Überlegungen machen.
Zum Gegenstand der Überlegungen, und damit zum Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses: das Thesenpapier hat wieder seine Dreiteilung von Epidemiologie, Prävention und Gesellschaftspolitik angenommen, und deshalb sollte man mit der Lektüre vielleicht beim letzten Kapitel beginnen, dort wo zwei Beiträge den gesellschaftspolitischen Background beleuchten. Durch die Epidemie ist es zu einer Fragmentierung der Gesellschaft in Gruppen („Clans“) gekommen, die sich in erster Linie in der Abgrenzung gegenüber dem „Außen“ stabilisieren und das Interesse an der Integration diskordanter, „nicht passender“ Meinungen verloren haben. Es wird die Tendenz sichtbar, der einen Seite exklusiv Vernunft und wissenschaftliche Fundierung zuzusprechen, der anderen Seite hingegen Unvernunft und den Hang zur Verschwörungstheorie. Die dabei ins Spiel kommende Vorstellung von Wissenschaft als geschlossene Faktenordnung mit direkt ableitbaren Handlungsanweisungen ruht auf einem szientistischen (und solutionistischen) Missverständnis dessen, was Wissenschaft darstellt – es ist nämlich das konstitutive Prinzip des systematischen Zweifels, das Wissenschaft als plurales Wissensregime ausmacht. Dieses Missverständnis erfüllt eine relativ präzise zu benennende politische Funktion: nämlich die der argumentativen Schließung und der Abwehr bzw. Abwertung von Kritik. Damit begibt sich die liberale Gesellschaft einer ihrer wertvollsten Ressourcen – dem kritischen öffentlichen Diskurs. Verfangen in den bekannten medialen Aufmerksamkeitszyklen und der bisherigen Kurzatmigkeit der politischen Maßnahmen hat sich die wissenschaftsjournalistische Berichterstattung zur Corona-Pandemie bislang nur selten von solchen vereinfachenden Zuschreibungen frei gezeigt. In praxi hat diese Einengung und Störung des Diskurses zu einer Einengung der Problemlösungen und zur Eindimensionalität des Vorgehens geführt, ein schwerwiegender Mangel, gerade im Hinblick auf die Problemlösungskomptetenz, die wir heute zur Bewältigung der CoronaKrise und speziell zur erfolgreichen Durchführung einer Impfkampagne dringend brauchen.
Die epidemiologische Situation ist weiterhin bedrückend. Unter den fortgesetzten Lockdowns scheint sich in mehreren Ländern eine tägliche Melderate von 20 bis 30/100.000 Einwohoner [so im Original, AA] einzustellen, was unter der Annahme einer Dunkelziffer von 5 in Deutschland etwa der Zahl von 1 Mill. Neuinfizierten pro Woche entspricht. Die Risiken der Infektion sind jedoch extrem ungleich verteilt, die relative CoViD-19-assoziierte Sterblichkeit (bezogen auf die Größe der Alterskohorten) liegt in der Alterskohorte über 90 Jahre in der 52. KW bei 17%, zwischen 80 und 89 bei 13% sowie zwischen 70 und 79 Jahren bei 6,5%, demgegenüber für die unter 40jährigen nur zwischen 0,002 und 0,09%. Bevor wieder Einzelfallberichte vorgetragen werden, die das Gegenteil beweisen sollen: natürlich gibt es auch Todesfälle und schwere Krankheitsverläufe unter den Jüngeren, aber in der Abwägung in einer epidemischen Situation, in der guter Rat extrem teuer ist, muss es Grundlage des Handelns sein, dort anzusetzen, wo das Problem – mit Abstand! – am größten ist. Und: wenn wir mehrere Millionen von Personen mit anderen Erkrankungen mit ähnlicher Altersverteilung zum Vergleich heranziehen – auch dort gibt es Opfer unter den Jüngeren, das macht (hier wäre der Begriff richtig) die „Biologie“ einer (Infektions-)Erkrankung aus.
Der Mittel- und damit auch Schwerpunktteil dieses 7. Papiers ist in Fortsetzung von Thesenpapier 5 wiederum der Prävention gewidmet. Die zentrale Aussage geht von einer Einheit von nicht-pharmakologischer Prävention in allgemeiner und spezifischer (Zielgruppen-orientierter) Ausprägung auf der einen Seite und Impfung bzw. Impfkampagne auf der anderen Seite aus: „sorgfältige Integration der Impfung in eine umfassende Präventionsstrategie“, so der Untertitel des Papiers. Nur in Kombination der Ansätze kann eine Wirkung erzielt werden, die Impfung allein kann es nicht richten, allein schon wegen der Personen, die entweder eine Kontraindikation gegen die Impfung aufweisen, bei denen die Impfung keinen Schutz zu Folge hat oder die eine Impfung ablehnen. Die bisherigen Präventionmaßnahmen müssen weiter im Spiel bleiben und vor allem hinsichtlich des Schutzes der vulnerablen Bevölkerungsgruppen laufend angepasst werden; sie müssen allerdings auch mit dem Impferfolg abgestimmt werden, um einen Verlust der Motivation zu vermeiden.
Besonders deutlich wird dies in den Pflegeheimen. Am 5. Januar 2021 waren allein in den Pflegeheimen kumulativ 10.149 CoViD-19-assoziierte Todesfälle aufgetreten, entsprechend 28% aller CoViD-19-Todesfälle in Deutschland (n = 36.537 Todesfälle). Auch mit Start der Impfungen sind daher parallellaufend alle präventiven Maßnahmen in Pflege- und Behinderteneinrichtungen, in Kliniken und im ambulanten Versorgungssetting – bis nach einer Durchimpfung entsprechende Erkenntnisse vorliegen – durchzuführen. Dazu gehören neben den AHA Regeln das Tragen von FFP2-Masken, das regelhafte Testen vor allem von eintreffenden Besuchern, Beschäftigten und Leistungserbringern im jeweiligen Versorgungsbereich. Spezifische Präventionsmaßnahmen sind im Thesenpapier 5.0 darüber hinaus beschrieben und dienen der Risikovorsorge bei vulnerablen Gruppen und entsprechenden Institutionen. Entsprechende Unterstützung der Heime mit Personal und finanziellen Mitteln ist unverzichtbar.
Zur Frage Wirkung einer Impfung sind natürlich die Wirksamkeitsdaten aus den Zulassungsstudien von prioritärer Bedeutung. Wichtig ist die Tatsache, dass die Endpunkte der vorliegenden Studien sich nicht auf die Infektion mit SARS-CoV‑2/CoViD oder die Infektiosität beziehen, sondern auf das Auftreten einer symptomatischen Erkrankung bei infizierten Personen. Die Zulassungsstudie für den BNT162b2-Impfstoff von BioNTech/Pfizer wurde mit 43.548 Personen durchgeführt (21.720 Verum, 21.728 Placebo) und zeigte 162 CoViD-19 symptomatische Infektionen in der Placebogruppe gegenüber 8 symptomatischen Infektionen in der Verumgruppe. Bei der Auswertung der Ergebnisse für die über 65 Jährigen wird die Wirksamkeit noch mit über 94 Prozent angegeben, bei noch älteren Personen sinkt die Wirksamkeit, zudem sind zu wenige Personen beteiligt, um exakte Aussagen treffen zu können. Der Impfstoff mRNA-1273 von Moderna (30.420 Teilnehmer, 1:1 randomisiert) zeigte 185 symptomatische Infektionen in der Placebogruppe gegenüber 11 in der Verumgruppe, schwere Erkrankungverläufe (z.B. mit Hospitalisierung) traten bei keinem Erkrankten in der Verum- und bei 30 Erkrankten in der Plazebogruppe auf. Angaben wie „95%iger Schutz“ beziehen sich also auf das Verhältnis von symptomatischen Verläufen bei infizierten Personen zwischen Verum (8 bzw. 11) und Plazebo (162 bzw. 185), nicht auf das Auftreten einer reinen Infektion mit SARS-CoV‑2/CoViD (oder gar die Infektiosität). Bei Infektion mit SARS-CoV‑2/CoViD haben Geimpfte also ein 20mal niedrigeres Risiko einer symptomatischen CoViD19-Erkrankung als nicht Geimpfte. Die wissenschaftlichen Kommentare zu den Zulassungsstudien konzentrierten sich auf die Darstellung der Wirksamkeit und die bestehenden Defizite in der Beurteilbarkeit von unerwünschten Wirkungen einschließlich gravierender allergischer Reaktionen, die eine methodisch „belastbare“ und von den pharmazeutischen Herstellern unabhängige Begleit- und Versorgungsforschung unverzichtbar machen. Dabei sollten die in der Zwischenzeit etablierten und bewährten Analysen auf Basis der Sekundärdaten von Krankenkasse als wichtige und verfügbare Ressource eingebunden werden. Die Krankenversicherungskarte kann dabei für die Identifikation der Geimpften und den ggf. behandlungsbedüftigen Folgen der Impfung eine relevante Hilfe sein, da in den Kassendaten die jeweiligen ICDs dokumentiert sind. Die deutsche Ärzteschaft war bisher, soweit es Nebenwirkungen von Arzneimittel betrifft, nach bisherigen Erfahrungen nicht sehr meldewillig. Diese Meldebereitschaft muss deutlich durch Überzeugungsarbeit und ggfls. Vergütung verbessert werden.
Wenn man sich von der Impfung der Gestaltung einer Impfkampagne zuwendet, stehen natürlich in erster Linie die organisatorische Umsetzung und die Lösung von Konflikten über den Zugang und die Fairness der Verteilung im Vordergrund. Die Impfbereitschaft der deutschen Bevölkerung mit COVID-10-Impfstoff ist nicht stabil und kann kurzfristig von emotionalen und medialen Einflüssen beeinflusst werden. Es bedarf einer umfassenden sachlichen und offeneren Informationskampagne, damit möglichst viele Personen eine informierte Entscheidung treffen können. Die Impfung ist, zumindest in der ersten Phase, ausschließlich eine spezifische Präventionsmaßnahme für besonders infektionsanfällige Personengruppen (Individualschutz). Eine bevölkerungsprotektive Wirkung (Gemeinschaftsschutz) ist bis heute nicht gesichert und sollte von daher nicht als Motivation für die Impfung öffentlich betont werden. Es geht insofern um die Schutzwirkung des Einzelnen, (noch) nicht um den der Gesellschaft. Impfstoff darf nur nach klaren wissenschaftlich begründeten Kriterien priorisiert werden. Ein „freier Markt“ für Impfstoff würde besonders in der Frühphase der Impfkampagne den gesellschaftlichen Konsens extrem gefährden und ist mit staatlichen Mittel a priori zu unterbinden. Die Personengruppen der höchsten Priorität erfordern eine besondere logistische und komplexe Impforganisation. Einem Angehörigen pro Bewohner/In in Altenpflegeinrichtungen ist ebenfalls eine Impfung anzubieten. Mit weitergehenden Differenzierungsnotwendigkeiten und einem deutlich höheren Zeitaufwand ist zu rechnen.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Aufklärung zur Impfung. Die individuelle Aufklärung der zu Impfenden ist ein wichtiger Prozess und Teil der notwendigen allgemeinen Information und Beratung der Menschen über die Impfstoffe. Aufklärung ist ein Teil der Legitimation der Impfung und ihrer Praxis. Der Umfang und der Inhalt der Aufklärung über den zu applizierenden Impfstoff sind abhängig von unserem Wissen über seine Eigenschaften. Die Aufklärung ist Teil der ärztlichen Behandlung = Impfung auf vertraglicher Basis. Jede zu impfende Person hat Anspruch auf die persönliche individuelle Aufklärung im Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt. Merkblätter/Formulare oder Videos über die Impfstoffe können das individuelle Gespräch mit dem Arzt nicht ersetzen, sondern bestenfalls vorbereiten. Ein Verzicht auf die persönliche Aufklärung ist nur ausdrücklich möglich, nicht allein in einem Formular. Mit der Entwicklung der Kenntnisse über die Eigenschaften der Impfstoffe in der Anwendungspraxis hat sich die Aufklärung an diese Kenntnisse anzupassen. Die Aufklärung ist ein dynamischer Prozess. Nicht nur die Erkenntnisse aus dem Impfstoffstudien sind relevant, sondern auch alle neuen Erkenntnisse aus der Anwendung der Impfstoffe in der Praxis der Impfung.
Die organisatorische Umsetzung und die Einbeziehung der Patienten z.B. im Rahmen der Aufklärung sind wichtige Bestandteile der Impfkampagne. Diese ist als „komplexe Mehrfachintervention“ zu verstehen: die Kampagne selbst besteht aus zahlreichen Einzelelementen und ist in ein breites Spektrum von Einflussfaktoren (Kontext) eingebunden. Eine Impfkampagne ist kein Selbstläufer, sie kann aufgrund zunächst vernachlässigbar erscheinenden Ereignissen oder Veränderungen der Haltung von Einzelnen oder Gruppen Schaden nehmen oder gar scheitern. Zusätzlich zur o.g. Analyse von Outcome-Daten zum Impfschutz und Unerwünschten Wirkungen bedarf es daher einer zeitnahen Begleitforschung, die nicht nur biomedizinische Faktoren (Immunitätsstatus, Erkrankungen, Entwicklung von Mutationen etc.) in den Blick nimmt (so wichtig diese sind), sondern ganz zentral sozial- und geisteswissenschaftliche Perspektiven einnimmt. Im Sinne der Implementierungsforschung sollte eine Begleitforschung von vorneherein in die Planung der Kampagne integriert werden, denn so dürfte man in der Lage sein, Frühwarnzeichen für Störungen der Kampagne oder sogar ein drohendes Schweitern [so im Origial, AA] aufzudecken. In dem vorliegenden Thesenpapier werden insgesamt 10 Kernanforderungen an ein solches Programm formuliert.
Wir stellen weiterhin ein methodisches Gerüst vor, das die Wirkung einer Impfkampagne zu prognostizieren hilft. Natürlich ist die Wirkung der Impfung, so wie in den Zulassungsstudien beschrieben (und noch beschrieben werden muss), ein wichtiger Bestandteil, aber mindestens ebenso wichtig ist die Erreichbarkeit der Bevölkerung durch die Impfkampagne und die informierte Entscheidung für oder gegen die Impfung durch diejenigen, die sich entsprechend beraten lassen. Die Evaluation der Wirkung der Impfstoffe erfolgt dabei nach Maßgabe der Evidenz-basierten Medizin und den Grundsätzen der Durchführung klinischer Studien. Die Evaluation der Impfkampagne einschließlich aller Umgebungsfaktoren ist (noch) aufwendiger. Hier sind zum Beispiel auch die „Impfverweigerer“ einzuschließen, denn jede Impfkampagne muss mit der Ablehnung einer Impfung rechnen und dies in die Beurteilung der Gesamtintervention einbeziehen. Eine Impfung, die in der Studie hochgradig effektiv erscheint, kann im Alltag der Umsetzung durch Fehler in der Kommunikation oder durch bestimmte Unerwünschte Wirkungen mit daraus resultierender hochgradiger Ablehnungsquote wirkungslos bleiben. Statt der biomedizinisch hergeleiteten Wirksamkeit spielen hier auch Fragen der Einstellung und „Haltung“ eine große Rolle. Man weiß aus anderen Zusammenhängen (z.B. Händedesinfektion im Krankenhaus zur Prävention nosokomialer Infektionen) sehr genau, welche zentrale Rolle dieser Einstellungsebene zukommt.
Es ist also wünschenswert, eine Impfkampagne so zu planen, dass sie durch eine hohe Resilienz ausgezeichnet ist, also einer möglichst großen Elastizität gegenüber Störungen und Konflikten, die ihren Erfolg schmälern können. Drei Anforderungen lassen sich ableiten:
A die Kohärenz der Einzelfaktoren ist zu fördern;
B die Einzelfaktoren sind an einem Rahmenkonzept (Ziel und Strategie) auszurichten;
C eine isolierte Erfolgskontrolle über Einzelfaktoren ist nicht sinnvoll bzw. sollte vermieden werden.
Die Einzelfaktoren, aus denen sich eine Impfkampagne zusammensetzt, lassen sich zunächst in 7 große Gruppen unterteilen (s. Kasten S. 89). Sie sind jedoch nicht als statisch anzusehen, sondern interagieren, verändern sich und unterliegen multiplen Rückkopplungseffekten, die am besten durch das Throughput-Modell beschrieben werden können (s. Kap. 3.4.2). Die entscheidende Aufgabe für die Planung einer Impfkampagne besteht darin, die genannten Einzelfaktoren schlüssig miteinander zu verbinden und entsprechend der Zielvorstellung auszurichten.
Die Darstellung eines Rahmenkonzeptes stellt die zentrale Aufgabe der politischen Führung dar. Dieses Konzept muss die Formulierung eines Zieles und der Strategie umfassen. Unter den drei Möglichkeiten „Durchmarsch“, Integration in ein umfassendes Präventionskonzept unter dem Begriff der „Stabilen Kontrolle“ und einer Minimallösung (begrenzt auf Risikogruppen) sticht die Stabile Kontrolle als sinnvollste Strategie hervor. Zunächst imponiert die Impfung bzw. Impfkampagne als Verstärkung der Zielgruppenorientierten, spezifischen Prävention, wird im Verlauf aber immer mehr als allgemeine Präventionsmaßnahme („für alle“) verstanden werden. Von entscheidender Bedeutung ist die Lösung von Ziel- und Umsetzungskonflikten, insbesondere hinsichtlich der Anreize, der Motivation, der Konflikte mit anderen gesellschaftlichen Zielen (z.B. Datenschutz), der Integration von Nicht-Geimpften und in der Kommunikation von Wirkung und unerwünschten Wirkungen.
Eine Erfolgskontrolle der Impfkampagne anhand eines Einzelkriteriums (wie z.B. der Impfquote) ist dringend zu vermeiden, da sie störanfällig ist und u.U. zu falscher Sicherheit Anlass gibt. Die Impfquote kann z.B. bei frühzeitiger Impfung jüngerer Personen sehr rasch gesteigert werden, obgleich die Morbidität und Mortalität dadurch nicht günstig beeinflusst wird. Die sinnvollere Alternative besteht in der Nutzung eines multidimensionalen Scores, wie er hier beispielhaft vorgeschlagen wird (S. 95).
Eine komplexe Mehrfachintervention wie eine Impfkampagne ist eine primär soziale Intervention und basiert auf mehreren Voraussetzungen, von denen die transparente Formulierung realistischer Ziele an erster Stelle steht. Die verlässliche Rückkopplung des Erfolges und ein Führungsverständnis, das sich als Rahmengeber für die Peripherie versteht und falsche bzw. vorzeitige Festlegungen vermeidet, sind weitere Voraussetzungen. Die Skizzierung von solchen strategischen Zielen ergibt einen klaren Befund: die Impfung der Hochrisikogruppen wird kurz-mittelfristig zu einer Reduzierung der Mortalität und Morbidität, aber nicht der Melderaten führen: selbst bei Annahme einer hohen Wirksamkeit der Impfung auf die Rate der Infektionen (die Zulassungsstudien beziehen sich nur auf die symptomatischen Verläufe bei bereits Infizierten) werden in der ersten Märzwoche nur rund 20.000 von insgesamt 150.000 gemeldeten Infektionen (13%) verhindert (Bezug KW 51/2020), in den Alterskohorten über 80 Jahre werden aber 3.200 von 4.700 Sterbefällen (68%) verhindert. Dies ist ein weiteres Argument dafür, die Melderate und die daraus abgeleiteten Grenzwerte im Begründungsszenario der politischen Führung zu relativieren. «