Schon am 8.9. mußte man sich die Augen reiben beim Lesen eines Kommentars in der FAZ. Am 10.9. scheinen die "Corona-Leugner" die Macht im publizistischen Schlachtschiff des Kapitals übernommen zu haben. In einem weiteren Kommentar ist dort zu lesen (Druckausgabe):
»Die Zahl der Toten hierzulande ist noch nicht einmal halb so hoch wie die der letzten schweren Grippewelle. Das Durchschnittsalter der Toten liegt bei mehr als 80 Jahren. Das Gesundheitssystem steht weiterhin gut da. Viele haben die Infektion tatsächlich überstanden – und es gibt, trotz wieder recht zahlreicher positiver Testergebnisse, weiterhin Landkreise und Gegenden mit keiner einzigen Neuinfektion in den vergangenen Tagen.«
Der Autor beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Vorschlag des Bundespräsidenten für ein offizielles Corona-Gedenken und fragt:
»Sind wir im Krieg? Noch immer oder schon wieder? Es ist noch nicht lange her, dass eine recht martialische Rhetorik bemüht wurde, um den Ernst der Corona-Pandemie zu veranschaulichen. Das ist grenzwertig, wenn man sich die Schrecken der Weltkriege versucht vor Augen zu führen – aber es ist andererseits eine nicht unübliche Formel, um die Menschen auf die Begegnung mit Gefahren einzuschwören, um die Größe einer Herausforderung deutlich zu machen – und selbst als guter Anführer in schwerer Zeit dazustehen…
So schlimm die einzelnen Schicksale und die Isolation insbesondere in Heimen gewesen sind, so ist doch die Pandemie, wie sie in Deutschland bisher verlaufen ist, kein Anlass, eine Art Staatstrauer abzuhalten, wie sie etwa Spanien zelebriert hat…
Nichts gegen ein Gedenken an die Opfer… Zu denken ist aber mindestens ebenso sehr an eine herausgehobene Ehrung der zahllosen Helfer in der Corona-Krise: die Freiwilligen, die stundenlang an den Autobahnen Proben genommen haben; des ohnehin schon gebeutelten Pflegepersonals; der ebenfalls schlecht bezahlten Mitarbeiter in Supermärkten, die sich nicht nur einer Virengefahr, sondern einer teils aggressiven Kundschaft ausgesetzt sahen; der Schaffner, die eine Maskenpflicht faktisch durchsetzen sollen und beschimpft, manchmal auch bespuckt und geschlagen werden. Und man sollte auch an die Corona-Opfer denken, die nicht als solche gezählt werden: an die Verzweifelten, die sich im Angesicht der Krise umbrachten; die vielen echten, weil persönlich haftenden (Klein-)Unternehmer, die einer höchst ungewissen Zukunft entgegensehen…
Der Staat muß einerseits für damals pflichtgemäßes Handeln nicht um Vergebung bitten; er sollte aber auch nicht zu sehr eine vermeintliche Schicksalhaftigkeit der Pandemie beschwören. Ein Staatsgedenken könnte missverstanden werden und eine bisher vermiedene Spaltung der Gesellschaft befördern.«
Klare Worte verglichen mit denen in der "jungen Welt" vom gleichen Tag. Dort wird ein Artikel über die Berliner Protestdemonstration der Veranstaltungsbranche vom 9.9. so eingeleitet:
»Der Initiator der Demonstration, Dirk Wöhler, Präsident des Berufsverbands Discjockey e. V., hatte es im Vorfeld oft wiederholt: "Es wird ein Protest sein, bei dem die Maskenpflicht, die Abstandsregeln sowie alle anderen Hygienevorschriften unbedingt eingehalten werden." Die Veranstaltung richte sich nicht gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie, sondern werbe für Gespräche und finanzielle Hilfen, um die Veranstaltungsbranche zu retten. Nur wenige Tage nach dem Aufmarsch der Coronaleugner in Berlin schien es dem Veranstalter wichtig, sich von "Reichsbürgern" und Co. zu distanzieren. Und vielleicht ging es auch ein wenig darum, die schlechten Erinnerungen an eine Berliner Kundgebung vom 1. Juni für die Erhaltung der Klubkultur wettzumachen. Damals hatten etwa 3.000 Teilnehmer dichtgedrängt eine Technoparty am Landwehrkanal gefeiert, nur ein kleiner Teil der Gäste hatte die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie befolgt…
Trotz Anwesenheit Zehntausender in Rot eingekleideter Demonstranten wurden die Mindestabstände streng eingehalten, Desinfektionsmittel verteilt und Masken getragen.«
Doch, man erfährt auch etwas über die Forderungen der Demo.
Vermutlich werden sich die Lockdown-Befürworter auf der Linken erneut einigeln in der Gewissheit: Die FAZ hat wieder einmal gezeigt, daß sie im Interesse des Großkapitals die arbeitenden Menschen trotz aller Corona-Gefahren zu gefährlichen Arbeiten zwingen will, während sie selbst auf der Seite der vorbildlich maskentragenden Opfer stehen. Daß es sich um Opfer des Lockdowns handelt, wird sich mit einer verqueren Dialektik schon irgendwie regeln lassen,.
Diese Gesellschaft ist schwer geschädigt:
sie hat das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verloren!
Natürlich sterben Menschen. Natürlich will man das, wenn möglich, verhindern. Aber eine Gesellschaft zunichte machen um (angeblich) die Schwächsten zu schützen? Wer schützt die Schwächsten, wenn die Gesellschaft auseinander fällt? Wer bezahlt das Gesundheitssystem, wenn keine Einkommen und damit keine Sozialabgaben mehr erzielt werden?
Und das ist nur ein kleines Fitzelchen des Aspekts des Verlusts an Verhältnismäßigkeit.