»Krankenkassen bieten ihren Mitgliedern und Kunden alles an, was der Markt hergibt und was nicht explizit verboten ist«

Das sagt in einem recht resi­gnie­ren­den Inter­view auf tages​spie​gel​.de der schei­den­de Lei­ter des Insti­tuts für Qua­li­tät und Wirt­schaft­lich­keit im Gesund­heits­we­sen (IQWiG). Am 18.2.23 ist dort hin­ter der Bezahl­schran­ke zu lesen:

»Nach mehr als zwölf Jah­ren an der Spit­ze des Insti­tuts für Qua­li­tät und Wirt­schaft­lich­keit im Gesund­heits­we­sen (IQWiG) ver­ab­schie­det sich Jür­gen Win­de­ler in den Ruhe­stand. Im Inter­view spricht er über Hokus­po­kus-Dis­kus­sio­nen und Domi­nanz von Geschäfts­in­ter­es­sen im Gesund­heits­we­sen. Sei­ne nüch­ter­ne Bilanz: In der Wahr­neh­mung der poli­ti­schen Ber­li­ner Sze­ne spie­le das IQWiG der­zeit kei­ne her­aus­ra­gen­de Rol­le mehr…

Das Pro­blem sind die über­aus spär­li­chen Bemü­hun­gen der Indus­trie, für die Fra­gen, mit denen wir uns befas­sen müs­sen und die für die Ver­sor­gung bedeut­sam sind, über­haupt noch Evi­denz zu gene­rie­ren. Wir und alle Betrof­fe­nen aber brau­chen die­se Evi­denz: Wir wol­len wis­sen, ob die neu­en Arz­nei­mit­tel und Metho­den wirk­lich bes­ser sind als die alten. 

War­um pas­siert das nicht?
Mit dem Tag der Zulas­sung kön­nen Medi­ka­men­te in Deutsch­land auf den Markt und prak­tisch von jedem ver­ord­net wer­den. Da fehlt jeder Anreiz, wei­te­re Stu­di­en zu machen. Unse­re anschlie­ßen­de Bewer­tung des Zusatz­nut­zens hat zwar Aus­wir­kun­gen auf den Preis, nicht aber auf die Fra­ge, ob das Medi­ka­ment ver­ord­net wer­den kann…
 
Ich for­de­re belast­ba­re Stu­di­en­da­ten ein, die deut­lich machen, wel­chen Wert das neue Medi­ka­ment gegen­über der zweck­mä­ßi­gen Ver­gleichs­the­ra­pie hat. Wenn wir sol­che Daten nicht oder in sehr schlech­ter Qua­li­tät bekom­men, sagen wir, der Zusatz­nut­zen ist nicht belegt. Und dann müss­te es einen Mecha­nis­mus geben, dass man, und jetzt kom­me ich nicht umhin zu sagen: die Phar­ma­in­dus­trie zwingt, die­se Daten zu gene­rie­ren. Das wür­de aber im der­zei­ti­gen Sys­tem durch­aus auf Schwie­rig­kei­ten stoßen.
 
Man kann schlecht Medi­ka­men­te erst mit ganz­sei­ti­gen Anzei­gen bewer­ben und in die Ver­sor­gung brin­gen und hin­ter­her sagen, jetzt müs­sen wir aber noch eine Stu­die mit Expe­ri­men­tal- und Kon­troll­grup­pen machen. Inso­fern ist das eigent­li­che Pro­blem, dass Medi­ka­men­te zu früh und zu unreif in die Märk­te kom­men, ganz beson­ders früh ins deut­sche Gesundheitssystem.

Den Wunsch, dass Medi­ka­men­te zulas­ten der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen erst ver­ord­net wer­den dür­fen, nach­dem ihr Nut­zen nach­ge­wie­sen wor­den ist, hat­ten Sie schon vor Ihrem Amts­an­tritt for­mu­liert. Die meis­ten ande­ren EU-Län­der mach­ten das damals schon so. Deutsch­land – nicht zuletzt auf Druck von Indus­trie und Pati­en­ten­ver­bän­den – macht es bis heu­te nicht. War­um sind Sie nicht durchgedrungen?
Man muss Rea­list blei­ben: Nie­mand ist bis­her mit die­ser For­de­rung durch­ge­drun­gen. Die Geschäfts­in­ter­es­sen und damit auch poli­ti­sche Inter­es­sen­la­gen – Stich­wor­te Indus­trie­stand­ort Deutsch­land, Arbeits­plät­ze – haben dies verhindert.

Den­ken Sie an die zwei Ver­su­che zu Posi­tiv­lis­ten, die am Ende an der Sor­ge der Bun­des­län­der um ihre mit­tel­stän­di­sche Indus­trie geschei­tert sind. Wir haben eine Rei­he wich­ti­ger The­men aktiv ver­folgt, aber ich habe dar­auf geach­tet, dass es bei einer ver­dau­li­chen Pro­vo­ka­ti­on bleibt. Mein Ein­druck war, dass es dem Insti­tut – und dem Stan­ding der evi­denz­ba­sier­ten Medi­zin in Deutsch­land ins­ge­samt – eher gescha­det hät­te, wenn wir uns hier ver­bis­sen hätten…

Ein Bei­spiel?
Aktu­ell über­prü­fen wir im Auf­trag des Gemein­sa­men Bun­des­aus­schus­ses das Scree­ning zur Früh­erken­nung von Darm­krebs für Pati­en­ten zwi­schen 50 und 65 Jah­ren. Es geht dar­um, ob man die Inter­val­le zwi­schen den Darm­spie­ge­lun­gen ver­kür­zen und ob man immu­no­lo­gi­sche Tests ein­set­zen soll. Wäh­rend­des­sen bie­ten die Kran­ken­kas­sen ihren Mit­glie­dern und Kun­den schon mal alles an, was der Markt her­gibt und was nicht expli­zit ver­bo­ten ist: Kolo­sko­pien für 40-Jäh­ri­ge und Kolo­sko­pien für 80-Jäh­ri­ge, Alter­na­tiv­me­di­zin und Apps, für deren Nut­zen es kei­ne Evi­denz gibt. Das bringt eine Gering­schät­zung des G‑BA zum Aus­druck, was die Aner­ken­nung sei­ner Rol­le als zen­tra­le Regu­lie­rungs­in­sti­tu­ti­on betrifft, die dem Sys­tem, um es höf­lich aus­zu­drü­cken, nicht guttut. 

In der Pan­de­mie haben sich gro­ße Tei­le der Bevöl­ke­rung nach mehr Evi­denz gesehnt – etwa über die Wirk­sam­keit der Schul­schlie­ßun­gen, Kon­takt­be­schrän­kun­gen und ande­ren Maß­nah­men, die das Leben der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger beein­träch­tigt haben. War­um hat sich das IQWiG als Kory­phäe für Evi­denz­fra­gen in die­ser Situa­ti­on kein Gehör verschafft?
Da rei­he ich mich ein in den Chor der­je­ni­gen, die über ihre Feh­ler in der Pan­de­mie sin­nie­ren. Tat­säch­lich haben wir uns betä­tigt und ver­schie­dent­lich geäu­ßert, aber es stimmt, sehr laut zu ver­neh­men waren wir nicht. Das war mei­ne bewuss­te Entscheidung.

Wir hat­ten sowohl Herrn Spahn als spä­ter auch Herrn Lau­ter­bach ange­bo­ten, in der Pan­de­mie Bei­trä­ge zu leis­ten. Eine Ant­wort haben wir nicht bekom­men – die Model­lie­rer wur­den als wert­vol­ler erach­tet. Natür­lich hät­ten wir uns aktiv ein­mi­schen und der Poli­tik sagen kön­nen: Für Schul- und Fri­sier­sa­lon­schlie­ßun­gen oder „Ver­weil­ver­bo­te“ braucht man ver­nünf­ti­ge Grund­la­gen, ins­be­son­de­re, was das Ver­hält­nis zwi­schen Nut­zen und Scha­den angeht. Wer so etwas ent­schei­det, braucht Evi­denz oder soll­te sich um sie küm­mern – bei­des hat gefehlt.

Bis Stu­di­en auf­ge­setzt sind und ver­läss­li­che Erkennt­nis­se vor­lie­gen, dau­ert es lan­ge. In der Pan­de­mie war schnel­les Han­deln gefragt.
Ja, am Anfang! Aber selbst das schließt doch nicht aus, eine wis­sen­schafts­ba­sier­te Debat­te über Public-Health-Maß­nah­men zu füh­ren! Eini­ge haben das ver­sucht, sind aber geschei­tert. Und in die­ser Gemenge­la­ge, wie ich sie im ers­ten Jahr der Pan­de­mie erlebt habe, habe ich mich sol­che Äuße­run­gen nicht getraut. Das war mir zu heiß…

Die Domi­nanz von Geschäfts­in­ter­es­sen in einem Sys­tem, das dem gesund­heit­li­chen Wohl der Men­schen die­nen soll, beschäf­tigt mich sehr. Das The­ma hat auf die Dau­er ein erheb­li­ches Frust­po­ten­zi­al. Bestimm­ter Din­ge wer­de ich über­drüs­sig, das ist wahr­schein­lich in jeder Funk­ti­on, die man län­ger aus­übt, so. Und ich weiß nicht, ob ich mich freue, dass ich bald auf­hö­re, weil ich lang­sam müde wer­de, oder ob ich müde – viel­leicht bes­ser: ent­spannt – wer­de, weil ich sehe, dass ich lang­sam auf­hö­ren kann. Ich wer­de jeden­falls sehr in Frie­den gehen hier.«

Update: Sie­he auch

„Wir kön­nen von einem Ver­sa­gen der Wis­sen­schaft sprechen“

“Dis­kus­sio­nen sind unerwünscht”

13 Antworten auf „»Krankenkassen bieten ihren Mitgliedern und Kunden alles an, was der Markt hergibt und was nicht explizit verboten ist«“

  1. Das war erschüt­ternd mit zu erle­ben wie Win­de­ler und ande­re in der Pan­de­mie nicht durch­drin­gen konn­ten obwohl sie ver­nehm­bar waren!!! Anfang Dezember2020 gab es ein Inter­view in der Zeit, dass er, Win­de­ler, ein­fach nicht gehört wur­de, die Evi­denz­ba­sier­te Medi­zin wohl ein­fach nicht oppor­tun war.Da las­sen wir ein­fach ein Insti­tut, das bes­tens geeig­net ist in der Unter­su­chung von Medi­ka­men­ten­si­cher­heit, unberücksichtigt.In der schlimms­ten Pan­de­mie in Deutsch­land. Die Kran­kas­sen arbei­ten ja mit dem IGWIG zusam­men, sie haben sich auch nicht stark gemacht. für deren Ein­be­zie­hung.. Was für ein tota­les Versagen !!!

  2. Scha­de, dass auch der Herr Win­de­ler geschwie­gen hat. Erst jetzt, kurz vor dem Ruhe­stand, traut er sich wohl Kri­tik zu äußern. Hät­ten sich mehr Men­schen getraut, v.a. auch ange­se­he­ne Fach­leu­te wie er, wäre es ver­mut­lich nicht so weit gekommen.
    Immer­hin ist er eine ehr­li­che Haut, das ist schon eine posi­ti­ve Aus­nah­me. Respekt. Ob er wirk­lich in Frie­den geht, man weiß es nicht, es hört sich ein biß­chen so an, dass er sich das ein­zu­re­den ver­sucht. Er war Mit­läu­fer, aber wohl nicht offi­zi­el­ler Befür­wor­ter. Das muss er mit sich selbst ausmachen.

  3. "Kran­ken­kas­sen bie­ten ihren Mit­glie­dern und Kun­den alles an, was der Markt her­gibt und was nicht expli­zit ver­bo­ten ist"

    Das kann ich so nicht bestä­ti­gen, denn in der Regel sind es nicht die Kran­ken­kas­sen, son­dern die Ärz­te, von denen man die Leis­tun­gen 'ein­kauft' und dort wird einem mei­ner Erfah­rung nach vor allem das ange­dreht, was für den Arzt beson­ders lukra­tiv ist. Wenn der Pati­ent etwas wünscht, das nicht viel ein­bringt, aber doch sehr sinn­voll wäre, wur­de zumin­dest mir das in der Regel so gut wie immer verweigert.

  4. An Bereit­schaft zu kor­rek­ten Stu­di­en fehlt es ohne­hin, auch dann, wenn die Ergeb­nis­se zuguns­ten preis­wer­te­rer Alter­na­tiv­lö­sun­gen aus­fal­len könnten .…

      1. Das ist unrichtig.

        Das IQWIG ist inhalt­lich unab­hän­gig, nicht weisungsgebunden.

        Es wird aber nur im Auf­trag des GBA tätig. Der wie­der­um wird von den Kas­sen und der orga­ni­sier­ten Ärz­te­schaft besetzt.

        Kein Auf­trag ->> kei­ne Stellungnahme

        1. Wie soll ich dann das verstehen?

          https://​www​.iqwig​.de/​u​e​b​e​r​-​u​n​s​/​a​u​f​g​a​b​e​n​-​u​n​d​-​z​i​e​l​e​/​g​e​s​e​t​z​l​i​c​h​e​-​g​r​u​n​d​l​a​g​en/

          "Der Gene­ral­auf­trag:

          Der Gemein­sa­me Bun­des­aus­schuss (G‑BA) hat dem IQWiG im Dezem­ber 2004 einen
          Gene­ral­auf­trag erteilt, der im März 2008 erwei­tert wur­de. Er ermög­licht es dem IQWiG , eigen­stän­dig The­men aus­zu­wäh­len und wis­sen­schaft­lich zu bear­bei­ten. Die The­men müs­sen nicht mit dem G‑BA oder dem Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um (BMG) abge­stimmt werden."

  5. Wer schweigt stimmt zu, Herr Windeler!

    Die Men­schen ver­las­sen sich auf Insti­tu­tio­nen wie das IQWiG oder das Amt für Arz­nei­mit­tel­kon­trol­le. Bei­de ver­wie­sen auf Nach­fra­ge auf das PEI. 

    Das IQWiG hat sich vor­nehm zurück­ge­hal­ten, als es drin­gend gebraucht wur­de. Herr Win­de­ler hat taten­los zuge­se­hen, als kri­ti­sche Wis­sen­schaft­ler ihren Ruf ver­lo­ren, um sei­nen eige­nen A.… zu ret­ten. Das ist unverzeihlich!

  6. Es ist doch bezeich­nend, dass der Lei­ter des Insti­tuts sich erst Gehör ver­schafft, als er sei­ne Posi­ti­on bereits gekün­digt hat/in Pen­si­on geht. Er hät­te uns in der Pan­de­mie schüt­zen kön­nen und Kohor­ten­stu­di­en ver­an­las­sen müs­sen. Deutsch­land hat kei­ne vali­den Daten!

    1. Ich erin­ne­re mich dar­an, dass Win­de­ler genau dies bereits sehr früh ange­bo­ten hat­te. Ich las es sogar in einer Zei­tung. Die Poli­tik hat­te kein Inter­es­se daran.

  7. Es gab Ver­su­che von ver­schie­de­ner Sei­te, Herrn Win­de­ler dazu zu ermu­ti­gen, sich von sich aus an die Öffent­lich­keit zu wagen und Evi­denz in Sachen Coro­na einzufordern.

    Dass es ihm "zu heiß" war, kann als am Anfang nach­voll­zieh­bar gel­ten. Auch 2021 und 2022 aber?

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