Maßnahmen in der Pandemie: „Das Grundgesetz gilt immer“

Der Regens­bur­ger Rechts­pro­fes­sor Thors­ten King­reen hat­te schon im Sep­tem­ber fest­ge­stellt: "Eine "epi­de­mi­sche Not­la­ge von natio­na­ler Trag­wei­te" i.S.v. § 5 Abs. 1 IfSG liegt daher der­zeit nicht vor." Das war damals mit Aus­nah­me eines Kom­men­tars in der "Welt" weit­ge­hend igno­riert wor­den (s. hier und hier). Ein Zei­chen dafür, daß sich der Wind zu dre­hen beginnt, kann ein Inter­view mit ihm unter obi­gem Titel auf ber​li​ner​-zei​tung​.de vom 20.2. sein. Dort ist zu lesen:

»Herr King­reen, die aktu­el­le Coro­na-Poli­tik könn­te den Ein­druck erzeu­gen, dass wir in einem Not­stand leben. Sehen Sie das auch so?

Es gibt kei­nen Not­stand. Das Grund­ge­setz kennt die Unter­schei­dung zwi­schen einem Nor­mal- und einem Aus­nah­me­zu­stand aus wohl­erwo­ge­nen his­to­ri­schen Grün­den nicht. Es gilt immer.

Ist also alles ganz normal?

Das nun auch wie­der nicht. Der Bun­des­tag hat auf der Grund­la­ge von § 5 Absatz 1 des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes eine soge­nann­te epi­de­mi­sche Lage von natio­na­ler Trag­wei­te fest­ge­stellt. Das führt aber nur dazu, dass der Exe­ku­ti­ve, das heißt vor allem dem Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit und den Lan­des­re­gie­run­gen, beson­de­re Befug­nis­se ein­ge­räumt wer­den. Aber die Grund­rech­te blei­ben für alles der Maß­stab. Weil das so ist, müs­sen wir auch dar­über dis­ku­tie­ren, ob die gesetz­li­chen Gren­zen für die exe­ku­ti­ven Schutz­ver­ord­nun­gen im Rah­men des sog. Lock­downs nicht viel zu weit sind. Die ent­spre­chen­den Ermäch­ti­gungs­grund­la­gen (die §§ 28, 28a und 32 des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes) sind ziem­lich unbe­stimmt. Sie las­sen eigent­lich alles zu, wenn man nur irgend­wie begrün­det, dass zukünf­tig irgend­et­was gesche­hen könn­te. Damit ist ihr Poten­zi­al, die Frei­heits­rech­te zu schüt­zen, ziem­lich gering. Groß ist hin­ge­gen der Spiel­raum der Exe­ku­ti­ve hin­sicht­lich der Ausgangs‑, Kon­takt- und Berufs­be­schrän­kun­gen. Daher erle­ben wir der­zeit in Wochen­ab­stän­den ein ver­fas­sungs­recht­lich gar nicht vor­ge­se­he­nes Ritu­al von Bund-Län­der-Kon­fe­ren­zen, deren alt­vä­ter­li­che Rhe­to­rik eher an die Rück­ga­be von schlech­ten Mathe-Klau­su­ren zu Schul­zei­ten erin­nert: „Thors­ten, es reicht noch immer nicht!“

Wel­che Ver­bes­se­run­gen schla­gen Sie vor?

… Wir müs­sen uns… dar­über ver­stän­di­gen, was eigent­lich das Ziel der Maß­nah­men sein soll, auch das ist im Gesetz gänz­lich unklar. Geht es um den Schutz der indi­vi­du­el­len Gesund­heit oder eher dar­um, die öffent­li­che Gesund­heit zu schüt­zen, also ins­be­son­de­re die Über­las­tung des Gesund­heits- und Pfle­ge­sys­tems zu ver­hin­dern? Wenn wir Letz­te­res wol­len – wofür eini­ges spricht –, kön­nen nicht allein die Neu­in­fek­tio­nen maß­ge­bend sein, son­dern etwa die Bele­gung auf den Inten­siv­sta­tio­nen und der Anteil der Posi­tiv­tests. Auch die Impf­quo­te wird zuneh­mend eine Rol­le spie­len. Mög­li­cher­wei­se kann man auch bestimm­te Maß­nah­men mit unter­schied­li­chen Zie­len ver­kop­peln – also etwa die übli­chen Hygie­ne­maß­nah­men auch zum Schutz der indi­vi­du­el­len Gesund­heit, aber Ausgangs‑, Kon­takt- und Berufs­ver­bo­te nur, wenn die öffent­li­che Gesund­heit gefähr­det ist…

Ist es ohne Stu­fen­plan auch mög­lich, dass es zu mehr Will­kür kommt?

Den Begriff Will­kür wür­de ich nicht ver­wen­den. Ich sehe nicht, dass jemand will­kür­lich han­delt. Es gab ein paar unsin­ni­ge Rege­lun­gen wie die 15-Kilo­me­ter-Rege­lung oder die nächt­li­chen Aus­gangs­sper­ren, aber die sind ja von den Gerich­ten auch für rechts­wid­rig erklärt wor­den. Und über so lebens­frem­de Rege­lun­gen wie die Kon­takt­be­schrän­kung auf eine haus­halts­frem­de Per­son soll­te man auch noch ein­mal reden…

Befin­den wir uns in einer Zwi­schen­pha­se, wo es wie­der ein­mal rechts­staat­li­che Nor­ma­li­tät geben wird, oder ändert sich gera­de das Sys­tem, womög­lich irreversibel?

Wir soll­ten sen­si­bel mit unse­ren Grund­rech­ten und unse­ren demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen umge­hen und Ver­schie­bun­gen auch benen­nen. Wir beob­ach­ten gera­de schon sehr merk­wür­di­ge Ver­än­de­run­gen der Spra­che. Die Rede ist von „Pri­vi­le­gi­en“ und „Locke­run­gen“ – dabei geht es doch um die Frei­heit. Sie ist nicht recht­fer­ti­gungs­be­dürf­tig, wohl aber der Ein­griff in die Freiheit…

Sie haben ja jetzt auch erlebt, dass Kri­tik an der Regie­rung instru­men­ta­li­siert wird. Der kom­mis­sa­ri­sche Vor­sit­zen­de des Rechts­aus­schus­ses des Deut­schen Bun­des­ta­ges Hir­te hat sie [so im Ori­gi­nal, AA] in die Nähe der Coro­na-Leug­ner gerückt, weil eini­ge Web­sites Ihre Aus­sa­gen zitiert haben …

Man kann lei­der nicht ver­hin­dern, dass öffent­li­che Aus­sa­gen in ande­re Kon­tex­te gerückt und dann von Coro­na-Leug­nern für ihre Zwe­cke miss­braucht wer­den. Die Äuße­run­gen von Herrn Hir­te muss man nicht kom­men­tie­ren, er hat ja mitt­ler­wei­le gemerkt, dass er damit ein gran­dio­ses poli­ti­sches Eigen­tor fabri­ziert hat…«

5 Antworten auf „Maßnahmen in der Pandemie: „Das Grundgesetz gilt immer““

  1. Die Wei­ma­rer Ver­fas­sung galt im 3. Reich fort. Es lohn­te die Mühe nicht, sie zu "besei­ti­gen". Es genüg­te, sie "aus­zu­le­gen" und zu präzisieren.

    1. @some1
      Ist nicht wahr. Die Wei­ma­rer Ver­fas­sung wur­de aus­ge­he­belt durch Reich­tags­brand und Notverordnung.
      https://​www​.mdr​.de/​z​e​i​t​r​e​i​s​e​/​r​e​i​c​h​s​t​a​g​s​b​r​a​n​d​-​1​0​2​.​h​tml
      Ich fürch­te, es herrscht inzwi­schen kom­plet­te Amne­sie, was die Nazi­zeit betrifft.
      Und ja, die Aus­he­be­lung des Grund­ge­set­zes durch Angst und Infek­ti­ons­schutz ist höchst suspekt, aber noch reden wir über Haus­ar­rest und Ordnungswidrigkeiten.

  2. Hal­le­lu­jah!
    Da hat der Rechts­pro­fes­sor ja mal ein paar wah­re Wor­te gespro­chen. Denn was die­se Maß­nah­men nun eigent­lich bezwe­cken sol­len, weiß er tat­säch­lich kein Mensch mehr.

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