So faßt die Webseite des Bundestags die Anhörung des Gesundheits-Ausschusses zusammen. Im Text ist immerhin zu lesen
»Juristen gaben allerdings zu bedenken, dass die mit dem Feststellungsbeschluss einhergehenden Befugnisse für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verfassungsrechtlich bedenklich seien.«
Die Überschrift hätte also auch lauten können "Verfassungsrechtliche Bedenken zur nationalen epidemischen Lage".
Was sagen die Sachverständigen?
Die Stellungnahmen sind hier veröffentlicht. Die Transkription des Auftritts von Herrn Drosten gestaltet sich offenbar schwierig und fehlt noch (Stand 10.9., 14:30 Uhr).
»Die Bundesärztekammer spricht sich dafür aus, die Feststellung des Bestehens der epidemischen Lage derzeit aufrechtzuerhalten… Die Voraussetzungen hierfür liegen derzeit leider immer noch vor und die Feststellung ist auch weiterhin notwendig, um angemessen und ggf. kurzfristig auf ein wieder dynamischeres Infektionsgeschehen reagieren zu können.«
In einer Gemeinsamen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, der Deutschen Gesellschaft für Public Health und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention heißt es:
»Wir begrüßen die gesellschaftliche und parlamentarische Diskussion darüber, ob und unter welchen Bedingungen die epidemische Lage von nationaler Tragweite aufgehoben werden sollte. Die unterzeichnenden Fachgesellschaften sind zum jetzigen Zeitpunkt der Auffassung, dass die epidemische Lage von nationaler Tragweite nach wie vor besteht…
Die Belastung des medizinischen Versorgungssystems ist derzeit zwar gering, kann aber sehr schnell regional zunehmen und die lokalen Möglichkeiten übersteigen. «
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erklärt:
»Aus der von der Regierungskoalition vorgelegten Begründung zur Neufassung des IfSG, die in der BT Drs. 19/18111 enthalten ist, lassen sich mindestens drei einschlägige Kriterien ableiten. Eine seuchenrechtliche Notlage im Sinne des Gesetzes liegt vor, wenn
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- eine erhebliche Gefährdung des Funktionierens des Gemeinwesens droht,
- sich diese Gefährdung auf das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erstreckt,
- es sich um eine sich dynamisch entwickelnde Ausbruchssituation handelt, die zudem mit einer grenzüberschreitenden Ausbreitung und Übertragung einer Krankheit einhergeht.
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Angesichts der augenblicklichen Dynamik bei den täglich steigenden Infektionszahlen, die sich tatsächlich auf das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erstreckt und bei der es sich um eine dynamisch entwickelnde fortbestehende Ausbruch Situation handelt, sind mindestens 2 dieser Kriterien aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Intensivmedizin und Notfallmedizin (DIVI) erfüllt.
Aus einem dynamischen Geschehen mit deutlich zunehmen Infektionszahlen kann sich durchaus eine zusätzliche erhebliche Gefährdung des Funktionierens des Gemeinwesens entwickeln.
Die DIVI weist darüber hinaus darauf hin, dass zusätzlich zur SARS-CoV‑2 Pandemie im Herbst weitere relevante Krankheitsbilder der oberen und unteren Atemwege drohen, zudem beginnt im November die neue Influenzasaison.«
Die Gesellschaft für Virologie (GfV) ist der Auffassung:
»Aus Sicht der Gesellschaft für Virologie besteht nach wie vor eine hohe Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung durch COVID-19. Die epidemiologische Situation ist nicht stabil…
Trotz Schutzmaßnahmen muss damit gerechnet werden, dass die Infektion auch wieder ältere und gefährdete Bevölkerungsgruppen erfasst, so dass mit einem Anstieg der Hospitalisierungen zu rechnen ist. Die weitere Kinetik des Infektionsgeschehens ist schwer vorhersehbar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Fallzahlen mit Beginn der kälteren Jahreszeit zunehmen werden. Nach Ansicht der Gesellschaft für Virologie ist eine Überlastung des Gesundheitssystems nach wie vor nicht ausgeschlossen.
Wir halten es deshalb für wichtig, dass auch in den kommenden Monaten die gesetzlichen Voraussetzungen für die rasche Umsetzung von Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie erhalten bleiben.
Für den GKV-Spitzenverband gilt:
»Mangels eines allgemein politischen Mandats äußert sich der GKV-Spitzenverband vorliegend nicht zu der aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragestellung einer Rückholpflicht des Bundestages bzw. zur befristeten Kompetenzausweitung der Exekutive im Verhältnis zum Parlament im Rahmen der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite… Zu bewerten sind hingegen die jeweiligen konkreten gesundheitspolitischen Maßnahmen, die auf Grundlage der neuen Rechtsetzungsbefugnisse getroffen wurden…
Zu befürchten ist, dass die frühzeitige förmliche Erklärung, die epidemische Lage sei nicht mehr von nationaler Tragweite, auch bei begleitender differenzierter Darstellung durch Politik und Medien gleichwohl in der öffentlichen Wahrnehmung dahingehend aufgenommen werden könnte, dass die Epidemie nunmehr überwunden sei, und entsprechend grundlegende Verhaltensweisen wie das Abstandhalten, das regelmäßige intensive Händewaschen oder das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung ebenfalls an Bedeutung verloren hätten. Somit könnte sich eine Annahme des Antrags durch den Deutschen Bundestag, der im Kern nur den Weg in eine neue rein parlamentarisch geregelte Pandemiebekämpfung weisen will, im Ergebnis zur Verfestigung oder gar zu einer Ausweitung der Corona-Krise mit entsprechend nachfolgend notwendigen verschärften Eindämmungsmaßnahmen beitragen.«
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung vermeidet eine Positionierung zur "epidemischen Lage von nationaler Tragweite". Sie stellt fest:
» Der Ansturm auf die Kliniken in Deutschland [ist] ausgeblieben…
Solange keine wirksame und flächendeckend verfügbare Impfung gegen COVID-19 existiert, ist davon auszugehen, dass wir ein Leben „mit Corona“ führen müssen: Sei es in Form von mehreren Wellen oder in Form eines längerfristigen beziehungsweise immer wiederkehrenden Infektionsgeschehens auf mehr oder weniger niedrigem Niveau. Dieses wäre mit einer starken ambulanten Versorgung und gewissen Rahmenbedingungen gut zu bewerkstelligen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und das KV-System haben sowohl für die längerfristige Integration der Corona-Versorgung in die Regelversorgung als auch für regional auftretende Clusterausbrüche mit sprunghaft steigenden Fallzahlen strategische Ansätze zu deren Bewältigung erarbeitet. Wichtigste Voraussetzungen für alle Szenarien sind die konsequente Trennung von COVID19-Verdachts- und Erkrankungsfällen von anderen Patienten sowie das Vorhandensein von ausreichend Schutzmaterial…
Immer wieder haben "Experten" in den letzten Jahren unser Gesundheitssystem als zu teuer und ineffizient gegeißelt. Doch nun zeigt sich, dass genau dieses System der wesentliche Grund für die gelungene und gut gesteuerte medizinische Versorgung während der Krise war. Während der eigentlich zuständige Öffentliche Gesundheitsdienst bislang weder organisatorisch noch von seiner technischen und personellen Ausstattung her über die nötigen Voraussetzungen zur Bewältigung einer pandemischen Lage verfügt, hat das KV-System bewiesen, dass es mit einem abgestimmten Vorgehen, aber regional flexibel die notwendigen Kräfte und Ressourcen mobilisieren kann.«
Prof Michael Elicker, Rechtsberater der Sächsischen AfD-Fraktion, erklärt:
»Eingedenk der Tatsache, dass die Rechtsgrundlage nicht nur wegen ihrer Unbestimmtheit verfassungswidrig ist, sondern eine Reihe von schweren verfassungsrechtlichen Defiziten aufweist, ist die Aufhebung unverzüglich vorzunehmen…
Mit den Anordnungskompetenzen, die dem Bundesminister für Gesundheit aus § 5 Abs. 2 IfSG zuwachsen, wird der nach Art. 83 GG den Ländern obliegende Vollzug des Gesetzes dem Bundesminister für Gesundheit selbst überantwortet. Die damit einhergehende Verschiebung grundgesetzlich festgelegter Zuständigkeiten durch ein einfaches Bundesgesetz ist verfassungsrechtlich nicht möglich.
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 – 3000 – 080/20, S. 10.
Die Verordnungsermächtigungen in § 5 Abs. 2 IfSG stellen eine verfassungswidrige "Selbstentmachtung" des Gesetzgebers dar.«
Der Jurist Franz Knieps sieht seine Stellungnahme als die des persönlich geladenen Einzelsachverständigen und nicht als Meinungsäußerung des BKKDachverbands, dessen Vorstandsmitglied er ist. Bei ihm heißt es:
»Eine epidemische Lage von nationaler Tragweite begründet keinen verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand oder Notstand. Das heißt, das Grundgesetz gilt zu jeder Zeit und in vollem Umfang für alle Akte staatlicher Gewalt. Das gilt insbesondere für die staatliche Gewaltenteilung, die Aufgabentrennung von Bund und Ländern und für den Katalog der Grundrechte…
Kein Grundrecht gilt schrankenlos. Viele Grundrechte können durch Gesetze eingeschränkt werden. Auch finden sie ihre Grenzen, wo sie mit anderen Grundrechten konkurrieren oder aus Grundrechten abgeleitete staatliche Schutzpflichten verletzen…
Der Wesensgehalt von Grundrechten darf nicht angetastet werden. Dies ist im Rahmen von Abwägungsprozessen zwischen Grundrechten und/oder Schutzpflichten zwingend zu berücksichtigen.
Im Fall von Epidemien von nationaler Tragweite ist stets der neueste Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in solche Abwägungsprozesse einzubeziehen. Das gilt besonders dann, wenn der Erkenntnisstand noch gering ist und Unsicherheit das staatliche Handeln prägt.
Abwägungsprozesse sind nicht ein für allemal abgeschlossen, sondern müssen immer wieder neu auf der Basis des jeweiligen Kenntnisstands vorgenommen werden.
Deshalb rechtfertigt ein Beschluss zur Feststellung der epidemischen Lage nicht automatisch die gesetzlich mögliche Ausweitung exekutiver Kompetenzen, den Vorrang bundesweiter Maßnahmen des Infektionsschutzes oder gar die Einschränkung von Grundrechten.
Die (neu eingeführten) Regelungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes begegnen insoweit verfassungsrechtlichen Bedenken, als sie eine Aufhebung dieser Feststellung verlangen, um einen zweifelsfrei verfassungskonformen Zustand wiederherzustellen.
Es empfiehlt sich deshalb eine baldige Überarbeitung der Vorschriften im Lichte der Erfahrungen der COVID-19-Pandemie…«
Der Jurist Prof. Thorsten Kingreen erklärt u.a.:
»Die Feststellung einer "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG setzt eine systemische Gefahr für die "öffentliche Gesundheit", d. h. für die Gesundheitsinfrastrukturen und damit für die Versorgung der Bevölkerung voraus…
"Öffentliche Gesundheit" ist also ein kollektives Rechtsgut, das von der individuellen Gesundheit zu unterscheiden ist. Es geht nicht um den Einzelnen, sondern um die Infrastrukturen, die seine Gesundheit schützen. Die "Lage von nationaler Tragweite" adressiert also systemische Verwerfungen in den Infrastrukturen des Gesundheitswesens.
Die Gefahr für die "öffentliche Gesundheit" war zum Zeitpunkt des Beschlusses am 25.03.2020 gegeben…
Es muss zudem nochmals betont werden, dass nach wie vor erhebliche individuelle Gesundheitsgefahren vom Coronavirus ausgehen. Aber derzeit geht auch das RKI nicht von einer systemischen Gefahr aus, die die Infrastrukturen des Gesundheitswesens überfordern könnten. Eine "epidemische Notlage von nationaler Tragweite" i.S.v. § 5 Abs. 1
IfSG liegt daher derzeit nicht vor…
Der Feststellungsbeschluss muss nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG wieder aufgehoben werden, weil seine tatsächliche Voraussetzung, die Gefährdung der "öffentlichen Gesundheit", nicht mehr vorliegt.«
Prof. Matthias Schrappe, Internist und früheres Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, ist der Meinung:
» Bei der bisherigen Bewältigung der Epidemie sind zahlreiche Fehler zu verzeichnen, die man durch eine breitere wissenschaftlich-fachliche Beratung z.B. durch Ökonomen, Juristen, Pädagogen, Psychologen (wegen der psychischen Folgen z.B. der Vereinsamung). Pflegewissenschaftler, Soziologen, Politologen hätte vermeiden können. Soweit man diese Perspektiven als "Public Health"-Perspektive zusammenfasst, kann man klar konstatieren: diese Perspektive wurde nicht abgefragt und blieb daher weitestgehend ungenutzt…
Der Diskurs über die Situation und die einzuleitenden Maßnahmen muss breit aufgestellt werden, um die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen, die sich von der Diskussion ausgeschlossen fühlen, zu beenden bzw. zu reduzieren.«
Der Jurist Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger betont:
»Entfallen die Voraussetzungen für die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, ist der Bundestag gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 IfSG verpflichtet, die Feststellung aufzuheben. Ob dies der Fall ist, hat der Bundestag kontinuierlich zu beobachten…
Aufgrund der aktuellen Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts liegen wesentliche für die Bejahung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite relevante Parameter vor (Dynamik, bundesweites Ausbruchgeschehen, erhebliche Gefährdung für die öffentliche Gesundheit)… Damit lässt sich die "Notwendigkeit, einer Destabilisierung des Gesundheitssystems vorzubeugen", bejahen – eine tatsächlich eingetretene Destabilisierung ist gerade nicht gefordert. Die Gewichtung und Bewertung dieser Parameter obliegt dem Bundestag im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative…
Liegen die Voraussetzungen für die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht mehr vor, ist diese gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 IfSG aufzuheben. Diese Aufhebungspflicht folgt aus der indikativen Formulierung dieser Norm: "Der Deutsche Bundestag hebt die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder auf, wenn die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht mehr vorliegen." Raum für Ermessen besteht im Fall, dass die Tatbestandsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, demnach nicht.«