Stefan Huth, Chefredakteur der jungen Welt, versucht heute auf einer Doppelseite der Zeitung eine politische Einordnung der Corona-Debatte.
"Die durch das neuartige Virus SARS-CoV‑2 dynamisierte weltweite Entwicklung ist im Begriff, eine historische Zeitenwende einzuleiten. Es spricht vieles dafür, dass die Volksrepublik China gestärkt aus der Coronakrise hervorgehen wird und bereits deutlich früher als erwartet die Vereinigten Staaten von Platz eins der ökonomischen Weltspitze verdrängen könnte. Bei Strafe ihrer eigenen Schwächung werden die Staaten der EU ihre transatlantischen Bindungen lockern und sich künftig stärker gen Osten orientieren müssen…
Strukturen der bürgerlichen Herrschaft von Weltbank, NATO bis zur Europäischen Union sind durch innere Widersprüche in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, Gleiches gilt für supranationale Einrichtungen wie die UNO oder die Weltgesundheitsorganisation WHO."
- Die Verdrängung eines kapitalistischen Landes von Platz 1 des Weltwirtschaftsrankings durch ein anderes ist demnach eine historische Wende. Eine solche Sicht kann nur einnehmen, wer einerseits der Meinung ist, daß uns die VR China damit dem Sozialismus näher bringt, und andererseits die kapitalistische Wachstumslogik bei diesem Ranking verinnerlicht.
- Nachgerade sinnfrei erscheint die Vorhersage zu transatlantischen Bindungen der EU-Staaten. Die Staaten lockern die Bindungen zu einer NATO, die als Kampforganisation gegen "den Osten" gegründet wurde, um sich "künftig stärker gen Osten" zu wenden? Weil China stärker wird?? Ist China im "Osten"???
- "Eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten" der bürgerlichen Herrschaftsstrukturen zu erkennen in einer Zeit, in der diese einen weltweiten Lockdown durchsetzen, demokratische Teilhabe auch nur von Parlamenten drastisch einschränken, Billionen an Geldmitteln aufwenden kann zur Aufrechterhaltung ungerechter Wirtschaftsbeziehung in der ganzen Welt – dazu gehört erhebliche Phantasie.
Zutreffend dann eine Beschreibung einiger Folgen der Corona-Maßnahmen:
"Zehntausende Existenzen werden durch drastische Einkommensverluste infolge der Maßnahmen zur Coronaeindämmung vernichtet werden. Unabhängig von den ökonomischen sind auch die sozialen Folgen enorm und treffen vor allem die ärmeren und ärmsten Teile der Bevölkerung: fehlende Betreuung von Kindern, denen zugleich Lern- und Bildungschancen genommen werden, Vereinsamung, Depression, häusliche Gewalt, Isolation von Menschen in Behinderten‑, Alten- und Pflegeeinrichtungen. Die ohnehin prekäre Lage von Geflüchteten und Saisonarbeitern in Sammelunterkünften verschlechtert sich drastisch."
Der Autor kommt damit zum eigentlichen Thema
"Der wachsende Unmut in der Bevölkerung ist auch auf die miserable Informationspolitik der Bundesregierung zurückzuführen. Diese hat ihre Verantwortung gleichsam an eine kleine Zahl ausgewählter Virologen delegiert, die seither eine Art Expertenregierung neuen Typs bilden. Während Merkel sich vorzugsweise um den Erhalt des großen Ganzen kümmert, wird die parlamentarische Demokratie in Frage gestellt (z. B. im Ersten und im Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite). Irrationale Panik- und Hamsterkäufe zeugten bereits zu Beginn der Coronapandemie bundesweit vom schwindenden Vertrauen breiter Kreise der Bevölkerung in die Regierung. Diese nutzt, wenig erstaunlich, die präzedenzlos unübersichtliche Situation, um neben der Duldungsbereitschaft der Bevölkerung neue Instrumente der Massenkontrolle und Repression zu testen: Einschränkung von Grundrechten (Ausgeh‑, Versammlungs- und Demonstrationsverbote), Überwachungsmaßnahmen (Tracking-App, Immunitätsausweis) sowie den Einsatz der Bundeswehr im Innern, u. a. zur Unterstützung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Und selbstredend wird sie den Ausnahmezustand auch nutzen, um soziale Grausamkeiten zu verabschieden, perspektivisch etwa weitere Streichungen bei der Grundsicherung."
Unter der überraschenden Zwischenüberschrift "Keine normale Grippe" erneut Irritierendes:
"Diese Krise verändert die gesellschaftlichen Verhältnisse von Grund auf. Corona wirkt dabei wie ein Katalysator, der politische und soziale Prozesse beschleunigt, systemstützende wie oppositionelle Kräfte neu sortiert. Doch auch die herrschenden Kreise des Westens können aus dem Lockdown nur sehr begrenzten Nutzen ziehen, zumal sich das Virus naturgemäß klassenindifferent »verhält« (auch wenn Reiche gegen die Folgen einer Infektion besser gewappnet sind)."
Ist die Revolution ausgebrochen? Woran wäre die grundlegende Veränderung wohl zu bemerken? Was wäre ein mehr als "sehr begrenzter Nutzen" für eine Automobil- und Luftfahrt-Industrie verglichen mit dem, "wegen Corona" aus einer selbstverschuldeten und erfreulichen Krise gerettet zu werden? Wozu der Unfug des klassenindifferenten Virus', wenn das sofort wieder zurückgenommen werden muß?
Sodann beruft sich der Autor auf den Spezialisten der Redaktion, der so zitiert wird:
"Die Sterberate ist derzeit nur sehr schwer einzuschätzen, da die realen Infektionszahlen mangels flächendeckender Tests nicht einmal annähernd bekannt sind. Die aktuelle (15. Mai 2020) Sterberate als Verhältnis von gemeldeten Fällen (positiv getesteten Infizierten, diese fast immer mit Symptomen) und Verstorbenen liegt zwischen 2,4 Prozent in Südkorea und 16,4 Prozent in Belgien. (…) Allerdings gehen Schätzungen von einer starken Untererfassung der Infizierten aus."
Der letzte Satz verweist auf ein Problem. Wie beschrieben benennt die Rate den Anteil der Verstorbenen an posiiv Getesten. Deren Anzahl wird gesteuert über die Zahl der Tests. Bisher wurden in aller Regel auch hierzulande nur Menschen getestet, die wahrscheinlich infiziert sind. Bezogen auf die Weltbevölkerung von rund 7,8 Mrd. und einem aktuellen Stand von 308.317 Coronatoten beträg die Rate der an oder mit Corona Verstorbenen 0,004 %.
2017 meldete die Pharmazeutische Zeitung:
"Jedes Jahr sterben weltweit vermutlich zwischen 290.000 und 645.000 Menschen an Atemwegserkrankungen infolge einer Influenza-Infektion."
Die Stuttgarter Nachrichten sprechen von weltweit 500 Millionen Erkrankungsfällen. Die Zahl der Corona-Erkrankungen wird heute von der JHU mit 4.570.370 angegeben.
(Welch Schindluder mit derartigen Zahlen betrieben wurde und wird, macht ein Spiegel-Artikel vom 23.3. deutlich, der prognostiziert, "3,5 Millionen Iraner würden am Coronavirus sterben". Laut JHU gibt es heute im Iran gut 118.392 Fälle mit 6.937 Toten. Selbst unterstellt, die iranische Regierung melde nicht alle Fälle, bleibt die "Nachricht" schlicht Panikmache. Der Spiegel-Artikel wurde nichtsdestotrotz munter weiterverbreitet.)
Der Autor deklariert "neben strikten Maßnahmen zur Distanzwahrung" die Notwendigkeit "einer möglichst lückenlosen Verfolgung der Infektionsketten mit dem Ziel ihrer Unterbrechung." Genau das passiert aber nicht. Auch Gesundheitsämter wurden in den letzten Jahren kaputtgespart. Deshalb können sie diese Aufgabe genau so wenig leisten wie auch nur flächendeckende Tests des Gesundheitspersonals.
Schließlich kommt der Knackpunkt. Richtig wird festgestellt:
"Auf die rigiden Shutdown-Maßnahmen reagieren viele Menschen mit verständlicher Skepsis und Ablehnung, auch Linke, die der Bundesregierung zu Recht keinerlei Kredit geben. Sie trägt mit einer unzumutbaren Informationspolitik das Ihre dazu bei, wenn sich vielerorts bereits jetzt – die materiellen Folgen der Pandemie sind noch gar nicht voll durchgeschlagen – zur Empörung gesteigerte Unzufriedenheit Bahn bricht. So ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass Freiheitsrechte dauerhaft suspendiert bleiben, damit in Berlin im Rahmen eines Notstandsregimes ungestört zum Nutzen des Kapitals durchregiert werden kann. Wachsamkeit angesichts von Ausnahmezustand und erzwungenen Beschränkungen ist geboten, keine Frage, die Forderung nach voller Wiederherstellung der Versammlungsfreiheit vollkommen legitim. Dass Demonstrationen von beeindruckender Größe in Coronazeiten möglich sind – und das Recht darauf auch hierzulande erstritten werden muss –, zeigen so unterschiedliche Länder wie Portugal und Israel, wo Kundgebungen ohne Teilnahmebeschränkung mit entsprechendem Abstandsgebot problemlos zugelassen werden."
Um dann zum Haudrauf zu gelangen, das sich weder in Wortwahl noch Argumentation von Regierung und Mainstream-Presse unterscheidet:
"Hier setzen die selbsterklärten »Coronarebellen« an, die derzeit bundesweit mit Manifestationen von sich reden machen. Sie relativieren die Gefährlichkeit des Virus bzw. stellen sie mit Verweis auf Meinungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Experten generell in Frage, führen niedrige Infektions- und Sterberaten in Deutschland ins Feld (die ja auf eben jene kritisierten Kontrollmaßnahmen zurückzuführen sind) und beklagen in grotesker Übertreibung – man sehe sich im Vergleich die Beschränkungen an, die vor wenigen Wochen in Italien, Spanien oder Frankreich durchgesetzt wurden – die quasi anlasslose Etablierung einer »Coronadiktatur«…"
"Gegenwärtig sammeln sich von Flensburg bis Dresden unter fröhlichem Ignorieren aller durch die Pandemie gebotenen Hygiene- und Abstandsregeln Missmutige und Empörte unterschiedlichster Couleur: Unternehmer, Künstler, Impfgegner, Hooligans, Esoteriker, religiös Erweckte. Während fundamentale Kritik etwa an der Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge lauter wurde, in vielen Landesteilen von wachsender politischer Klarheit inspirierte Aktionen in Kliniken oder in Betrieben (etwa im von Schließung bedrohten Werk des Getriebebauers Voith im Allgäu) stattfanden, bricht sich bei den Coronademos ein regressives Bewusstsein Bahn, formiert sich die Gegenaufklärung…
Faschisten von AfD, NPD, »Identitären« und Kameradschaften schwimmen in der Masse mit, werden kaum behelligt und von den Veranstaltern nur halbherzig abgewiesen… Rechte Demagogen werden es eines möglicherweise nicht allzu fernen Tages leicht haben, diese »oppositionellen« Demonstrationen und Kundgebungen vollends zu kapern…
Das organisierte Corona-Wutbürgertum könnte sich als wirkmächtige Fortsetzung von Pegida erweisen und einer neuen Rechten, die dem Parlamentarismus auf ihre Weise den Garaus machen möchte, die Massenbasis eines verelendeten Kleinbürgertums zutreiben."
Weggelassen sei hier die Denunziation Linker, die sich bei den Demos engagieren. Geschenkt auch die unbestreitbare Erkenntnis, daß Rechte sich die Bewegung aneignen wollen. Entscheidend ist die Sprachlosigkeit auf die richtige These
"Wo die Linke fehlt, dringt der Irrationalismus vor, geben Rechte den Ton an und machen ihrerseits Orientierungsangebote."
Da der Autor sich für einen Kommunisten hält, weiß er eine Antwort:
"Die Herausforderungen, vor die diese Pandemie die Gesellschaften stellt, sind epochal. Nur mit der Aufhebung der zwischenstaatlichen Konkurrenz im Sozialismus wird es möglich sein, eine globale Bedrohung, wie sie das neuartige Coronavirus darstellt, in den Griff zu bekommen. Die Systemfrage ist auf drängende Weise zur Menschheitsfrage geworden. Höchste Zeit für eine Linke, die es ernst meint mit ihrem Kampf für eine soziale Alternative, sie auch hierzulande konsequent zu stellen."
Den wird vermutlich die Arbeiterklasse im Home Office erkämpfen. Hauptsache, sie geht nicht auf die Straße und trägt einen Mundschutz.
(Hervorhebungen nicht im Original)