Wie vor 20 Jahren. Nur schlimmer

Die "Tagesschau" vom 18.2.03: Rot-Grün-Schwarz schlei­fen das Gesundheitssystem (nicht im Bild Strippenzieher Lauterbach), und ein Dioxin-Skandal, der auch etwas mit che­mi­schen Waffen zu tun hat, wird verharmlost:

Es war bei­lei­be nicht der erste Dioxin-Skandal und es soll­te nicht der letz­te blei­ben. Am 5.1.2011 ver­öf­fent­lich­te der "Spiegel" eine unvoll­stän­di­ge Chronik, in der zu lesen ist:

»Dioxin-Skandale
Das Überall-Gift

Ob Kunststoffe, Konservierungsstoffe oder Kühlmittel: Viele unse­rer Wohlstandsgüter wur­den teu­er erkauft – mit dem Abfallprodukt Dioxin. Im Zweiten Weltkrieg soll­te das Gift als Chemiewaffe ein­ge­setzt wer­den. Doch erst in den Siebzigerjahren erlang­te es trau­ri­ge Bekanntheit. Eine Skandal-Chronik…

In der ita­lie­ni­schen Kleinstadt Meda waren bei einer Explosion auf dem Gelände der Chemiefabrik Icmesa etwa zwei Kilo eines Dioxins mit dem sper­ri­gen Namen 2,3,7,8‑Tetrachlordi­benzodioxin, kurz TCDD, frei­ge­setzt wor­den. Die schein­bar klei­ne Menge gif­ti­gen Staubes genüg­te, um sechs Quadratkilometer besie­del­tes Gebiet zu verseuchen.

Der unsichtbare Tod

Die Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno wur­den in der Folge zum Schauplatz eines apo­ka­lyp­ti­schen Szenarios. Vögel fie­len tot zu Boden, Pflanzen ver­dorr­ten, Bäume war­fen mit­ten im Sommer ihr Laub ab. Tausende Weidetiere, die das ver­gif­te­te Gras fra­ßen, ver­en­de­ten elen­dig. Rund 200 Menschen erkrank­ten an Chlorakne, mehr als 500 Anwohner wur­den eva­ku­iert. Das TCDD erlang­te als "Seveso-Gift" trau­ri­ge Berühmtheit.

Dabei galt die Produktion der soge­nann­ten Halogenkohlenwasserstoffe, kurz HKW, bei deren Herstellung Dioxine ent­ste­hen, lan­ge Zeit als Wohlstandsmesser für die west­li­che Welt. In ver­schie­de­nen Verbindungen fan­den sie sich in Kunststoffen, mach­ten Lebensmittel halt­ba­rer, steck­ten als Treibgas in Sprühdosen, als Kältemittel in Kühlschränken, dien­ten als Pflanzen- und Insektenvernichter oder Holzschutzmittel.

Das ein­zi­ge Problem: Als Abfallprodukte ent­ste­hen bei der Verbindung der HKW auch immer Dioxine. Die tod­brin­gen­de Wirkung der uner­wünsch­ten Nebenprodukte war den Chemikern dabei nicht ent­gan­gen. Wie hät­te sie auch? Die Heilsbringer der Nachkriegsindustrie hat­ten ihren Ursprung in den Giftküchen des US-Militärs. In Fort Detrick im Bundesstaat Maryland forsch­ten Chemiker an einem Stoff, der Bäume ent­lau­ben und Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Reis und Weizen ver­nich­ten sollte.

Nachdem rund 1100 Verbindungen gete­stet wor­den waren, gin­gen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zwei neue che­mi­sche Waffen in Produktion. Die Herbizide LN‑8 und LN-14 ent­hiel­ten als Nebenprodukt der Herstellung Dioxine…

Nach dem Krieg emp­fahl George W. Merck, der US-Sonderbeauftragte für bio­lo­gi­sche Kriegführung, die Ergebnisse der Forschung für öffent­li­che Gesundheit, Landwirtschaft, Industrie und Naturwissenschaften zu nut­zen. Er sprach dabei von einem "gro­ßen und blei­ben­den Wert für das mensch­li­che Wohlergehen". Und so geschah es auch – doch erst dem Seveso-Unglück wur­de der Blick der Öffentlichkeit dar­auf gelenkt, zu wel­chen Preis sie sich ihren Wohlstand erkauft…

Einsatz in Vietnam

… Als die Auswirkungen des Seveso-Giftes an die Öffentlichkeit gelang­ten, began­nen Wissenschaftler und Betroffene über­all auf der Welt Zusammenhänge herzustellen.

Die Herbizide LN‑8 und LN-14 etwa ver­schwan­den nach dem Zweiten Weltkrieg kei­nes­wegs für immer in den Giftkammern der Militärs. Unter dem Namen "Agent Orange" kamen die Erkenntnisse der Forscher… zum Einsatz.

Abermillionen von Litern des Entlaubungsmittels wur­den wäh­rend des Vietnam-Kriegs über dem Dschungel ver­sprüht – mit schreck­li­chen Konsequenzen für Einheimische und US-Soldaten. Laut einem SPIEGEL-Bericht von 1991 wur­de trotz Warnungen der Wissenschaftsabteilung des Pentagon auf Pressekonferenzen wei­ter behaup­tet, das "Agent Orange" getauf­te Herbizid sei "nicht gif­ti­ger als Aspirin". Der Vietnam-Krieg geriet zum che­mi­schen Langzeitexperiment.

Das Gift ist überall

Bis heu­te liegt die Krebsrate in den mit Agent Orange bom­bar­dier­ten Teilen Vietnams um ein viel­fa­ches höher als der Durchschnitt, und noch immer kom­men in den bela­ste­ten Gebieten Kinder mit schwe­ren Fehlbildungen zur Welt. In den USA lit­ten rund 200.000 Vietnam-Kriegsveteranen an den Spätfolgen der Dioxin-Vergiftung.

Aspirin gegen Dioxin

… Größere Wellen schlug… der Eklat um die Chemiefabrik der Firma Boehringer in Hamburg-Billbrook. Dort waren Arbeiter jahr­zehn­te­lang bei der Herstellung von Pflanzenschutzmitteln ent­ste­hen­dem Dioxin aus­ge­setzt. Statt geeig­ne­ten Schutzvorkehrungen beka­men die Boehringer-Angestellten beru­hi­gen­de Worte und zwei Aspirin pro Schicht gegen die Kopfschmerzen, die täg­lich bei der Arbeit in der Fabrik auftraten.

Mit dem Skandal Anfang der Achtziger wur­de auch auf­ge­deckt, dass die Firma wäh­rend des Vietnam-Kriegs Chemikalien für die Herstellung von Agent Orange pro­du­ziert hat­te. Unter den Arbeitern lag die Krebssterblichkeit um 25 Prozent höher als der Durchschnitt der Bundesrepublik – die Selbstmordrate um 62 Prozent. Denn außer an Krebs lit­ten vie­le Boehringer-Angestellte unter Leberschäden, Bronchitis, Hirnschrumpfung, chro­ni­schen Darmerkrankungen und Depressionen.

Eine Fabrik aus Giftmüll

1984 wur­de das Werk für immer geschlos­sen und Stein für Stein als Giftmüll ent­sorgt. Der Alptraum ist damit aber noch lan­ge nicht vor­bei. Noch Anfang der neun­zi­ger Jahre pla­gen Anwohner in Billbrook die Folgen der Dioxinverseuchung…

Dennoch ver­geht kaum ein Jahr, in dem nicht Dioxin-Skandale die Bevölkerung auf­schrecken las­sen. Diese haben aller­dings bei Weitem nicht mehr das Ausmaß von Katastrophen wie in Seveso. Während in Italien 1976 inner­halb weni­ger Tage Tausende Tiere ver­en­de­ten, warnt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung beim aktu­el­len Skandal um ver­seuch­tes Tierfutter sogar vor Panikreaktionen. Für einen gesun­den Erwachsenen stel­le der täg­li­che Verzehr eines mit Dioxin bela­ste­ten Eis kein gesund­heit­li­ches Risiko dar.«

Das Paul-Ehrlich-Institut und das RKI kön­nen auf bewähr­te Erfahrungen zurück­grei­fen. Und Karl Lauterbach, spi­ri­tus rec­tor der dama­li­gen "Krankenhausreform", plant bereits die nächste.

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