Der größte Teil der Medienschaffenden plappert immer noch auch die absurdeste Botschaft von Christian Drosten nach. Doch die Front der Papsttreuen bröckelt. Während auf den Titelseiten überwiegend auf Panik gemacht wird, finden sich doch immer wieder nachdenklichere Stimmen weiter hinten.
So ist es auch in der "Zeit". Eingebettet in einen gruseligen Home-Story-Ton lesen wir in einem Artikel vom 8.10. doch erstaunliche Informationen.
»Eine kleine Küche mit rosa Wänden und rotem Boden. Auf dem Tisch liegt eine Wachstuchdecke mit goldenen Weihnachtssternen. Sie ist aus dem letzten Winter übrig geblieben, jenem Winter, in dem ein Virus begann, die Welt zu erobern. Seine Ausbreitung hat Menschenleben gekostet und Existenzen. Die Frau, die vor der rosa Wand sitzt, erzählt von den Schulden, die sich seit Monaten bei ihr anhäufen…
Sonne fällt durch das kleine Fenster, die Strass-Steine auf dem Mundschutz der Frau glitzern. Noch heller leuchtet die Maske auf, die der hochgewachsene Mann ihr gegenüber trägt: Ein blütenweißes Modell, ohne Verzierungen, dafür TÜV-geprüft und labortauglich. Der Mann heißt Jonas Schmidt-Chanasit. Er ist 41 Jahre alt, arbeitet als Arzt und Virologe am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.«
Offenbar braucht das vermeintliche Intellektuellen-Blatt eine solche Einführung, um die LeserInnen mit den verblüffenden Fakten zu konfrontieren. Denn Schmidt-Chanasit nutzt neuartige Tests.
Neuartige Tests
»Bei diesen Tests werden nicht, wie bisher üblich, mit einem Tupfer infizierte Zellen von der Rachenwand geangelt. Stattdessen legen sich die Frauen zwei Minuten lange eine Watterolle in ihre Backentasche – es ist wohl das allererste Mal, dass in Deutschland Corona-Tests auf Speichelbasis gemacht werden.
Das mal zu versuchen ist eigentlich überfällig. Eine selten ausgesprochene Wahrheit im bisher üblichen Testverfahren ist nämlich: Das Abstreichen nach "Goldstandard", ganz hinten ganz oben an der Rachenwand, überfordert viele Ärzte. Wer dabei zu forsch vorgeht, verdirbt den Test mit Blut. Wer zu zurückhaltend ist, findet vielleicht genau deswegen keine Viren. Eine Berechnung aus England mit fast 1.000 negativ getesteten Patienten, die noch einmal nachgetestet worden waren, kam darauf, dass ein Drittel der Virenträger falsch als virenfrei klassifiziert worden war.
Bei der Verwendung von Speichel fallen die Fehler der Rachenabstriche einfach weg. Was für andere Probleme er aber machen könnte, ist noch nicht klar. Niemand weiß zum Beispiel, was mit den Viren passiert, wenn man vor dem Test raucht oder Zähne putzt. Bisher gibt es erst einzelne Studien unter streng genormten Bedingungen, mit "Morgenspeichel", wie ihn auch die Frauen auf St. Pauli verwenden sollen. Dabei konnten zum Beispiel Infektionsmediziner in Japan mehr als 80 Prozent der Infizierten richtig zuordnen – deutlich mehr als mit einem durchschnittlich gut ausgeführten Rachenabstrich.
"Manchmal muss man einfach ausprobieren"
"Es hilft in einem aktiven Infektionsgeschehen nicht viel, immer nur auf akademische Goldstandards zu pochen", sagt Schmidt-Chanasit. "Manchmal muss man einfach anfangen und ausprobieren. Vor allem muss man etwas finden, das draußen im echten Leben funktioniert…«
Schnelle und genauere Ergebnisse
»Im Bernhard-Nocht-Institut, wo sonst Proben aus aller Welt nach Malaria, Dengue oder Chikungunya durchforstet werden, suchen die Techniker jetzt vor allem nach Coronaviren. Die meisten Proben kommen von Theaterensembles: Die Staatsoper, das Thalia-Theater oder die Elphi können deswegen wieder spielen, weil die Künstler sich vor den Proben und Vorstellungen nach einem Plan von Jonas Schmidt-Chanasit im Bernhard-Nocht-Institut testen lassen. Der Virologe hat dieses Verfahren mit Boten und Betriebsärzten so weit optimiert, dass die Ergebnisse so schnell vorliegen, wie es technisch überhaupt möglich ist, also nach wenigen Stunden.
Und: Anders als in den kommerziellen Laboren wird hier jedes Coronavirus, das sie finden, Baustein für Baustein auseinandergenommen. Auch bei all den anderen Ausbrüchen, die das Institut wissenschaftlich begleitet hat, machen sie das so. In den Erbinformationen der Erreger finden sich entscheidende Hinweise, auch fürs Seuchenmanagement. Zum Beispiel, wer wirklich wen angesteckt hat. Und wann sich das Virus genetisch verändert. Meistens sind das Veränderungen, bei denen die Viren zahmer werden. Aber manchmal ist eine Mutation auch Grund, Alarm zu schlagen…
"Aus virologischer Sicht sind Aerosole ganz klar ein Problem", sagt er, "also müsste man aus virologischer Sicht zum Beispiel auch Masken im Klassenzimmer empfehlen." Muss oder müsste? "Nur müsste. Ich empfehle es nicht, nur als Virologe zu denken, wie mit Scheuklappen. Aus virologischer Sicht müsste man Masken empfehlen, aber praktisch gesehen ist das nicht so einfach umzusetzen, da das gerade junge Kinder beim Lernen einschränken würde. Natürlich nimmt man dann im Gegenzug eine geringe Wahrscheinlichkeit für Infektionen auch in Kauf."
Es ist etwas zu still im Zimmer…«
Für "Bild" immer der, der Christian Drosten widerlegt
»Die Diskussion wird schon im Lockdown und dann im Sommer immer kampagnenhafter, ein Meinungstheater, das nun Lager mit passenden Meinungsschnipseln bedient. Schmidt-Chanasit spricht auch mit der Bild. Dort bekommt er den Titel "Top-Virologe" verpasst. Und darunter, in der dicken Überschrift, stehen die Worte: "Kinder unter zehn Jahren verbreiten das Virus nicht." Bild hat eine klare Rolle für ihn. Er ist dort immer der, der Christian Drosten widerlegt. Es ist Mitte Juni und zwischen dem Berliner Sars-Spezialisten und der Boulevardzeitung tobt ein Streit. Die Schlagzeile für den Berliner Kollegen drei Wochen zuvor war gewesen: "Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch – wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?"
Jonas Schmidt-Chanasit nennt Drosten "Christian". Es klingt so gar nicht nach Feindschaft. Die virologische Gemeinde ist klein, man kennt und trifft sich, es ist ein Club von Spezialisten, in dem Streit überhaupt keinen Sinn macht: 3.000 Arten von Viren gibt es, das sind zu viele Details für einen einzigen Kopf. Virologen müssen also ständig ihre Kollegen um Rat fragen können. "Christian kennt sich natürlich viel besser mit Coronaviren aus", sagt Schmidt-Chanasit.
Feinde sind sie nicht – aber manchmal streiten Schmidt-Chanasit und Drosten auf Twitter
Vielleicht sollte er diesen Satz mal twittern? Gerade erst ist der inszenierte Streit wieder hochgekocht, diesmal als direkter Schlagabtausch per Tweet. Das Thema: Eher akademisch. Eine Einschätzung des sogenannten Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin zu aktuellen Maßnahmen gegen Covid-19. Dort sind Mediziner und Forscher zusammengeschlossen, die sich dafür einsetzen, dass nur wissenschaftlich abgesicherte Verfahren eingesetzt werden. Mit den Eindämmungsmaßnahmen gegen Covid-19 haben sie offenbar ein ganz grundsätzliches Problem. Denn da es sich ja um einen bisher unerforschten Krankheitserreger handelt, wurden die Maßnahmen beschlossen, bevor es Studien gab.
Schmidt-Chanasit twitterte um 9.46 Uhr: "Gute und ausgewogene wissenschaftliche Stellungnahme. Ganz klar: Wo ist die Evidenz?" Drosten antwortete um 12.41 Uhr: "Im Ernst? Ich finde diesen Text polemisch und emotional, sicherlich nicht evidenzbasiert." Das ist eine Ohrfeige. Mindestens so sehr für die Stellungnahme wie für den Hamburger Kollegen. Tut das nicht weh?
"Es war bestimmt nicht so gemeint, wir alle wollen doch nur helfen", sagt Schmidt-Chanasit. "Die Situation im Moment ist einfach extrem, für alle. Vielleicht sollten wir auch einfach nicht mehr twittern." Auf Twitter gebracht hätten ihn die jungen Leute im Labor. "Bei ihnen klang das so einfach. Aber das ist so ein Spaltmedium, immer zu wenig Platz für Argumente. Das kann viel kaputtmachen."
Ob jetzt vielleicht Zeit und Platz für eine gründliche Erklärung wäre? Er habe an der Stellungnahme sehr gemocht, dass die Mediziner viel mehr Studien anmahnten, begleitend zu den Maßnahmen. Längst hätte es repräsentative Untersuchungen zur Verbreitung der Infektion in der Bevölkerung geben können, Studien, die während Maskenpflicht, Händewaschen und Abstandhalten in so vielen verschiedenen Umgebungen mal messen, was davon wirklich wirkt…«
Kehrseite der Verbote
»Strikte Verbote im Dienste des Infektionsschutzes haben aus wissenschaftlicher Sicht eine Kehrseite. Durch sie fehlen valide Daten, die die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus im echten Leben beziffern. Gäbe es diese Daten, müsste man Hygienekonzepte nicht mehr praktisch ausprobieren, man könnte sie vorausberechnen. "Aus meiner Sicht müssten wir deswegen schleunigst bestimmte Bereiche öffnen, das aber wissenschaftlich genau begleiten und die Wirkung dokumentieren, notfalls natürlich auch vorzeitig abbrechen."«
Für den Schluß braucht es dann wieder Gefühl.
»Schmidt-Chanasit entschuldigt sich, er muss gleich los. Fast jeden Tag fährt er zwei Stunden lang nach Hause, zwei Stunden lang mit virendichter Maske im ICE nach Berlin. Denn dort wohnt seine Familie, dort wartet ein Balkon mit blühenden Kakteen, dort wird er heute Abend noch ganz dringend für eine Gutenachtgeschichte erwartet.«