War es Rassismus oder "nur" Mißachtung und Stigmatisierung prekär lebender Menschen, was Ende Mai in Göttingen geschah?
Zur Erinnerung: Zu diesem Zeitpunkt dümpelte die Zahl der positiv auf Covid-19 getesteten Personen in Stadt und Landkreis Göttingen um die 100. Am 29.5. meldete die Stadt ein "Ausbruchsgeschehen COVID-19". Betroffen seien "Mitglieder mehrerer Großfamilien".
Nun kam der deutsche Beamtenapparat in Fahrt.
Die Formulierungen dazu vom 1.6. verdienen ein "Lernt erst mal anständig Deutsch":
»Am heutigen Pfingstmontag sind 55 Personen (zuzüglich 76 Personen, die bereits am Wochenende und 35 in der vergangenen Arbeitswoche getestet wurden) getestet worden…
Zusammen mit den diesbezüglichen Testungen der vergangenen Tage sind insgesamt 68 Personen Corona positiv getestet (59 in der Stadt und 9 Personen im Landkreis Göttingen). Weitere Befunde der Testungen von heute stehen noch aus.
Eine Person ist weiterhin in stationärer Behandlung.
Das Ausbruchsgeschehen macht weiter Maßnahmen erforderlich.«
Vor diesem Zeitpunkt hatte es 83 bestätigte Fälle gegeben. Mit den neuen lag man weit unter den Zahlen von Anfang des Monats. Damals war die Stadt übrigens dazu übergegangen, statt wie bisher von "bestätigten Covid-19-Infektionen" von "aktuell Erkrankten" zu sprechen. Damit folgte man der in den meisten Medien bis heute gebräuchlichen Sprachregelung, die bewußt Infektion und Erkrankung nicht unterscheidet. So entstehen gigantische Zahlen von "Genesenen", von denen nur ein verschwindend kleiner Teil zuvor erkrankt war.
Eine solche Grafik wird man bei der Stadt vergeblich suchen. Sie entsteht, wenn man die Tageszahlen der Webseite zusammenfaßt. Statt dessen sieht man dort diese bedrohlich wirkende Grafik, die noch nicht einmal die einzelnen Tage benennt:
Drohungen und Zwang
"Erforderlich" waren u.a. diese Maßnahmen:
»Eine mittlere zweistellige Zahl von Personen hatten für die Pfingsttage eine Aufforderung zur Testung erhalten und sind dieser bislang nicht nachgekommen. Eine schriftliche Anordnung, den Test umgehend nachzuholen wird unter Androhung eines Bußgeldes zugestellt. Notfalls wird die Maßnahme mit polizeilicher Unterstützung durchgesetzt werden.
Die Einhaltung aller Quarantäneanordnungen wird stichprobenhaft überprüft.«
Wieder kein richtiges Deutsch, dafür Drohungen, für die es in den Wochen zuvor keine Beispiele gibt, obwohl an die 300 "aktuell Infizierte" verzeichnet waren. Schließlich lag ja jetzt eine Person "weiterhin" im Krankenhaus. Bis dahin waren seit Beginn der Pandemie 76 "in Verbindung mit einer Erkrankung an Covid-19 gestorben".
Am Folgetag, dem 2.6., legte der Krisenstab der Stadt Göttingen nach:
»Sämtliche Personen, die in dem betroffenen Hochhauskomplex wohnen werden in den nächsten Tagen auf das Virus getestet. Es handelt sich um eine präventive Maßnahme, um das Infektionsgeschehen besser einschätzen zu können. Die konsequente Durchtestung der Wohnanlage ist ein milderes Mittel als eine pauschale Quarantäneanordnung für das ganze Gebäude. Der Ablauf wird derzeit von einer Arbeitsgruppe vorbereitet.
Die Hausverwaltung des Wohnkomplexes wird aufgefordert, ein Hygienekonzept für das Gebäude zu erstellen und umgehend vorzulegen.
Die Quarantäneanordnungen werden überprüft. Dies erfolgt auch in Zusammenarbeit mit der Polizei.«
Als am 25.4. "304 Personen im Kreisgebiet mit dem Coronavirus infiziert" waren, wurde keine dieser jetzt notwendig erscheinenden Maßnahmen gemeldet.
Neue Zwangsmaßnahmen
Nach dem 6.6. sanken die Fallzahlen wieder. Es wurde eine neue Aktion gestartet. Inzwischen gab es 78 Todesfälle. Nachdem sich 2 Frauen infiziert hatten, geschah dies:
»Am 15. und 16. Juni 2020 wurde an einem Gebäudekomplex in Göttingen eine große Testaktion auf SARS-CoV‑2 durchgeführt. Hintergrund war die Infektion zweier Frauen mit dem Corona-Virus, die bei einer Routineuntersuchung im Krankenhaus festgestellt wurde. Die ersten Testergebnisse liegen inzwischen vor: Bei etwa 100 Menschen wurde eine Infektion mit SARS-CoV‑2 festgestellt. Sie haben zahlreiche Kontaktpersonen und Querkontakte ins Gebäude. Insgesamt wurden knapp 700 Personen getestet, zum Teil auch von außerhalb des Komplexes. «
Wie zu erwarten und wie überall im Land geschehen, wurden bei den Tests zahlreiche Infektionen festgestellt. Wie allerdings nirgends außerhalb von Wohnkasernen ausländischer Schlachthofarbeiter oder Flüchtlingsunterkünften wurde für die BewohnerInnen des Gebäudekomplexes, die als prekär galten, entschieden,
»… den Gebäudekomplex bis zum Ablauf des 25. Juni 2020 vollständig unter Quarantäne zu stellen. Zuvor waren bereits die bekannten Infizierten und deren Kontaktpersonen 1. Grades unter Quarantäne gestellt. Die Maßnahme wurde am 18. Juni 2020 um 11.00 Uhr umgesetzt. Betroffen sind knapp 700 Bewohner*innen. Diese Entscheidung war vor dem Hintergrund des massiven Eingriffs in Grundrechte intensiv abgewogen worden. Aufgrund der hohen Positiv-Zahlen der ersten Testergebnisse wird sie als notwendig, angemessen und verhältnismäßig bewertet. Die Quarantäne dient dem Schutz der Bevölkerung; die Infektionskette des Virus soll damit unterbrochen werden…
Im gesamten Gebäude gilt ab sofort die Pflicht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen.«
Zugleich sollten ein "mobiles medizinisches Versorgungszentrum (mMVZ)" des DRK eingerichtet, Dolmetscher bereitgestellt und "Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs… nach Bedarf ausgegeben" werden.
Eine eigens erlassene Allgemeinverfügung verlangte von positiv Getesteten, sich "häuslich abzusondern", was auch "bis zu einer ausdrücklichen Entlassung aus der häuslichen Absonderung durch das Gesundheitsamt" für sämtliche andere Personen galt, die sich im Gebäude aufhielten und keinen anderen Wohnsitz nachweisen konnten.
Sonderbehandlung nach "Krawallen"
Selbst wenn man der Meinung sein sollte, derartige Maßnahmen seien epidemiologisch geboten, läßt die erneute selektive Anwendung auf bestimmte Bevölkerungsgruppen aufhorchen. In diesem Kontext ist auch die Verpflichtung zu sehen, sich nach einem negativen Testergebnis einem erneuten Test zu unterziehen.
Am 20.6. kam es zu erwartbaren "Krawallen". Zwar erklärte der Göttinger OB am 21.6.:
»Die Corona-Pandemie hat eine soziale Dimension erreicht. Bundesweit und auf der ganzen Welt sind vor allem Menschen in prekären Lebenssituationen dem Virus ausgesetzt. Enge Wohnverhältnisse, steigende Mieten und eine Überbelegung von Wohnraum zeugen von einer Profitgier derer, die mit Wohnraum spekulativ umgehen.«
Allerdings kann er leider daran nichts ändern:
»Solange die Rechtslage Profitgier und Preistreiberei mindestens duldet, sind den Städten und Gemeinden in Deutschland die Hände gebunden.«
Wie glaubwürdig nach einem massiven Polizeieinsatz die folgenden Worte sind, wird an den im Anschluß geschilderten Maßnahmen deutlich.
»Mehr denn je kommt es darauf an, sich solidarisch zu zeigen und zu verhalten. Es geht darum, Menschen zu schützen.«
Den BewohnerInnen wurde folgende Sonderreglung auferlegt:
»Jene, deren Test erneut negativ ausfällt, die ohne Krankheitsanzeichen und die keine Kontaktpersonen 1. Grades sind, gelten als gesund und dürfen dann auch wieder ein- und ausgehen. Erlaubt sind dabei maximal drei Personen aus einem Hausstand zur gleichen Zeit; eine Mund-Nasen-Bedeckung ist währenddessen zu tragen. Außerdem dürfen diese Personen vorsorglich bis zum 30. Juni 2020 weder die Schule noch die Kita besuchen und auch keinen Vereinssport betreiben. Wer in sensiblen Bereichen arbeitet – etwa im Gesundheitswesen – darf außerdem seine Arbeitsstelle bis zum 30. Juni nicht aufsuchen. «
Immerhin:
»Die Stadt Göttingen sorgt täglich mittags und am frühen Abend für eine Verpflegung… Zusätzlich können über ein Bestellzentrum telefonisch individuell gepackte Care-Pakete mit Lebensmitteln und Hygienebedarf angefordert werden; bislang wurden etwa 200 Pakete angefragt. Diese werden noch am selben Tag ausgeliefert. Dabei werden auch Wünsche und Erfordernisse wie beispielsweise nach Babynahrung oder Windeln berücksichtigt.«
Lockerungen? – Bundeswehr "hilft"
Ernsthaft als Lockerung beschrieben wird am 23.6.:
»Für knapp 350 Personen, deren Ergebnis erneut negativ ausgefallen war, sind die Quarantänebedingungen daher gelockert worden: Sie dürfen das Gelände ohne zeitliche Begrenzung verlassen und wieder betreten. Dabei gelten Auflagen wie das Tragen einer zuvor ausgehändigten Mund-Nasen-Schutzmaske, das Mitführen eines Ausweisdokuments und das Verbot, bis zum 30. Juni 2020 eine Schule oder eine Kita zu besuchen bzw. eine berufliche Tätigkeit in einem sensiblen Bereich (zum Beispiel im Pflegeheim oder im Krankenhaus) auszuüben.«
Keinerlei Rede ist von Erkrankungen oder gar zusätzlichen Todesfällen. Die simple Tatsache, daß Tests Infektionen aufdecken, wenn sie denn durchgeführt werden, führt im sozialdemokratisch verwalteten Göttingen zur Sonderbehandlung einer vorgeblich bedauerten, auf jeden Fall aber stigmatisierten Menschengruppe.
Als sei das nicht Provokation genug, wird am gleichen Tag verkündet:
»In diesem Tagen sind mitunter uniformierte Soldatinnen und Soldaten im Göttinger Stadtgebiet anzutreffen.
Das ist schnell erklärt: Seit Montag, 22. Juni 2020, sind zehn Soldatinnen und Soldaten in der Stadt auf Anfrage des Stabs für außergewöhnliche Ereignisse im Einsatz und unterstützen das Gesundheitsamt für die Stadt und den Landkreis bei der telefonischen Nachverfolgung möglicher Kontaktpersonen von Infizierten. Ihre Tätigkeit führen sie in den Räumlichkeiten des Gesundheitsamts aus.«
Zäune aufrechterhalten, weitere Schikanen
Mitnichten laufen die Maßnahmen am 25.6. aus. Weiterhin wird vorgeschrieben:
»Beim Aufenthalt im Gebäudekomplex gilt… eine Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Masken. Zum optimalen Schutz wurden FFP2-Masken an alle Bewohner*innen verteilt…
Um die Infrastruktur in der Straße "Am Hasengraben" weiterhin sicherzustellen, bleibt die Zaunanlage dort zunächst bestehen…
Um sicherzustellen, dass Menschen mit auferlegter Quarantäne das Gelände nicht verlassen, erfolgt eine Ein- und Auslasskontrolle. Das Einhalten der Quarantäne wird überprüft.
Besucher*innen dürfen das Gebäude betreten, allerdings nur mit FFP-2-Masken (wird ausgehändigt)…
Um den Schutz der Schwächsten, nämlich der Kinder und Jugendlichen in der Gesamtbevölkerung, sicherzustellen und der Sorge von Schulen und Kitas Rechnung zu tragen, werden die Kinder und Jugendlichen aus dem Wohnkomplex am Montag, 29. Juni 2020 nochmal komplett getestet. Bis zum Vorliegen des Testergebnisses dürfen sie Schule und Kita nicht besuchen.…
Kinder von 5 bis 9 Jahren konnten das Mini-Sport-Abzeichen erwerben. Dazu galt es, einen kindgerechten Parcours zu durchlaufen. Neben jeder Menge Spaß gab es am Ende Bügelaufkleber und eine Urkunde.«
»Der Göttinger Integrationsrat kritisierte unterdessen, dass Menschengruppen als Sündenböcke stigmatisiert würden. Es gebe eine "Welle der rassistischen und diskriminierenden Hetze" in den sozialen Medien gegen Bewohner des Wohnkomplexes. Der Integrationsrat appellierte an die Medien, keine Vorverurteilungen vorzunehmen und forderte die Stadtverwaltung auf, den Sachverhalt genau aufzuklären.«
Darüber berichtete schon am 12.6. der NDR.
Das gleiche Spiel im Grenzdurchgangslager Friedland
»Mehrere hundert Personen wurden getestet, der weitaus größte Teil mit negativem Befund… Die betroffenen Personen sind in der Einrichtung separiert beziehungsweise in häuslicher Quarantäne. Der Reihentest wurde vorgenommen, um ein klares Bild von der Situation im Grenzdurchgangslager zu bekommen, die Ausbreitung einzudämmen und Bevölkerung in der Gemeinde Friedland zu schützen.«
Ungeschminkt formuliert die Gemeinde Friedland:
»Direkt vor Ort in Friedland sind alle infizierten Menschen und auch sämtliche Kontaktpersonen im großen Maßstab unter Quarantäne gestellt. Die entsprechenden Testungen laufen auf Hochtouren. Dennoch gibt es zurzeit Menschen in der Einrichtung, die sich zumindest dem Recht nach frei bewegen können. Dieser Personenkreis hat aber keinen Kontakt zu den Menschen in Quarantäne und wurde des Öfteren negativ getestet. Es wird von Seiten der Landesaufnahmebehörde alles Menschenmögliche unternommen, um jegliche Beeinträchtigung der Bevölkerung in Friedland zu reduzieren.«
Die Hannoversche Allgemeine berichtet von weiteren anlasslosen Reihentests bei SpätaussiedlerInnen.
Im Göttinger Stadtrat sitzt noch nicht einmal eine Fraktion der AfD.
(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)
Update:
Hallo Artur.
weil mir das Thema schon länger unter den Nägeln brennt habe ich diesen Artikel noch mal publiziert und mit Bildern und Artikeln ergänzt. Da es leider mit substack technisch teilweise holprig läuft, mache ich die englische Übersetzung anhand des posts. Ich hoffe daß das so in Deinem Sinne ist. Falls nicht, erhebe bitte Einspruch. https://helendunkel.substack.com/p/absonderung-quarantane-diskriminierung
Danke, daß der Blog noch weiterläuft. Material für mehrbändige Wälzer. Viele Grüße
@Helen Dunkel: Großartig, vielen Dank!